Obwohl der Autor ja sozusagen „Anfänger“ ist: Edgar Selge kannten wir bisher nur als Schauspieler – wem der Name nicht gleich was sagt: Googelt sein Bild, dann denkt ihr garantiert: „Ach, der ist das.“ Schmaler Typ, war lange der einarmige Kommissar im Polizeiruf, glänzte schon im legendären „Rossini“ von Helmut Dietl und in vielen anderen Filmen neben Iris Berben, Hannelore Elsner, Ulrich Tukur, also wirklich: ein Großer.
Edgar Selges Debüt als Schriftsteller
Und der liefert nun – mit 73! – sein Debüt als Schriftsteller. Da rechnet man schon mit einer Autobiografie, und tatsächlich schreibt Edgar Selge hier über seine Kindheit. Aber: das Buch liest sich ganz und gar wie ein Roman. Da reflektiert nicht ein erwachsener Promi über seine Erinnerungen, sondern es erzählt der kleine Edgar, zwölf Jahre oder auch jünger, aus seinem Leben um 1960. Sein Vater ist Gefängnisdirektor, ein widersprüchlicher Mann: Regelmäßig verprügelt er den Jungen – und ist zugleich ein großer Musikliebhaber, der jeden Tag seinen Brahms am Klavier übt. Und zum Hauskonzert müssen dann die Häftlinge aus der Anstalt nebenan als Publikum antreten. Die Mutter ist vom Leben überfordert, der große Bruder konfrontiert beim Essen den Vater ständig mit der Nazizeit, was zu bitterem Streit führt, zwei andere Brüder sind jung gestorben – ein ewiger Schmerz für die Eltern und ein Schatten auch über Edgars Leben.
Mit trockenem Witz und authentischem Kinderblick
Klingt erst mal arg düster, oder? Aber Edgar Selge schreibt in einem ganz leichten Ton, mit trockenem Witz, und man geht einfach total mit diesem Jungen mit, der im Birnbaum hinterm Haus Bomberpilot spielt, der auch mal Geld klaut, weil er so wahnsinnig gern ins Kino geht oder auf die Kirmes. Und der einfach mit diesem typischen, halb klugen, halb ratlosen, aber immer authentischen Kinderblick auf die Welt schaut.
Kurzum: mein Buch des Jahres. Weil‘s ein Stück bundesrepublikanische Geschichte zeigt, weil‘s wirklich literarische Tiefe hat - und dabei total Spaß macht zu lesen.