Es gibt Fälle von Verbrechen, die so fassungslos machen, dass es schwerfällt, sie zu erklären. Die Entführung von Natascha Kampusch ist so ein Fall, oder auch Serienmörder Niels Högel, der als Pfleger mindestens 85 Patienten getötet hat. Oder schwere Fälle von Kindesmissbrauch wie die von Lügde und Münster aus den vergangenen zwei Jahren.
Solche Taten schockieren. Sie scheinen unmenschlich, geradezu monströs zu sein. Sie sind böse. Aber woher kommt das „Böse“ in uns? Hier machen wir den Faktencheck.
- Was heißt „böse“?
- Liegt das Böse in den Genen?
- Welche Rolle spielen genetische Veranlagungen?
- Können wir das Böse erkennen?
- Fazit: Werden wir böse geboren?
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Wie viel Böses steckt in jedem Einzelnen von uns? Forscher aus Ulm, Kaiserslautern und Kopenhagen haben einen Selbsttest entwickelt, der genau das herausfinden soll. Aber geht das überhaupt?
Was heißt „böse“?
Lydia Benecke ist Kriminalpsychologin und spezialisiert auf Gewalt- und Sexualstraftaten. Sie arbeitet unter anderem in der ambulanten Sexualstraftätertherapie und in einer Sozialtherapeutischen Anstalt. Dort hat sie mit Verbrechern, mit Mördern, Vergewaltigern und Pädophilen zu tun. Sie definiert „böse“ so:
Wenn ein Mensch ein Bedürfnis hat und entscheidet, dass er zur Befriedigung des Bedürfnisses einem anderen schadet, dann setzt er sein Bedürfnis über das Wohlergehen eines anderen Menschen. Und das würde ich als eine ‚böse‘ Entscheidung definieren.
Im Duden steht unter „böse“: moralisch schlecht; verwerflich; schlimm, übel.
Jean-Claude Wolf, Professor für Ethik und politische Philosophie, beschreibt böse als Schaden, den man anderen zufügt, oder Leid, das man zulässt, ohne Reue, Gewissensbisse oder auch nur ein Bewusstsein für selbiges. Böse ist also, Leid und Verzweiflung von Menschen in Kauf zu nehmen.
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Das Böse in den Genen?
Die Suche nach den Ursachen für kriminelles Verhalten und Aggressivität reicht weit zurück. Und immer wieder machen Studien und neue Erkenntnisse zu dem Thema Schlagzeilen. Lydia Benecke sagt dazu Folgendes:
Wenn man nach biologischen Grundlagen für aggressives Verhalten googlet, dann stößt man auf verschiedene Begriffe, die mal Thema waren. Einmal das „MAOA“-Gen, auch als Krieger-Gen bekannt geworden, das Doppel-Y-Chromosom und das ganz große Themenfeld Testosteron, das männliche Sexualhormon. Man hat jedes Mal gedacht: Jetzt haben wir’s, jetzt haben wir den entscheidenden Faktor für aggressives Verhalten gefunden. Und dann bei genaueren weiteren Untersuchungen stellte sich eigentlich immer heraus: So einfach ist es nicht.
Es gibt also nicht das eine Gen, aber das heißt nicht, dass das Erbgut gar keine Rolle spielt. Außerdem sind drei Beispiele gefallen: Das Doppel-Y-Chromosom, das MAOA-Gen, oder auch Krieger-Gen und Testosteron.
Alle drei Themen machten Schlagzeilen, weil sie eine Ursache für kriminelles Verhalten sein sollten. So wurden etwa das Doppel-Y-Chromosom und das Krieger-Gen angeblich vergleichsweise häufig bei Kriminellen nachgewiesen. Genauso wie ein zu hoher Testosteron-Spiegel, der seit Jahrzehnten mit aggressivem, triebhaftem und antisozialem Verhalten in Verbindung gebracht wird. Aber diese Studien sind mittlerweile fast vollständig widerlegt. Pauschale Aussagen wie „zu viel Testosteron macht aggressiv“ sind nicht bestätigt, ebenso wenig dass das Doppel-Y-Chromosom oder das MAOA-Gen ihre Träger gewalttätig werden lassen.
Umwelt und Veranlagung
Gene sind demnach nicht die eine Ursache für kriminelles oder aggressives Verhalten. Welche Rolle spielt dann die Veranlagung für kriminelles Verhalten?
Heutzutage ist eines ganz klar: Menschen sind sehr viel komplexer als nur Umwelt oder nur Gene. In Wirklichkeit sind wir das Produkt von komplexen Wechselwirkungen aus biologischen Faktoren und Umweltfaktoren.
Eine ungünstige Veranlagung, das reicht nicht aus, damit ein Mensch kriminell wird. Es ist ein Zusammenspiel aus vielen Faktoren, auch den Erfahrungen, die ein Mensch im Laufe seines oder ihres Lebens macht. Armut, Drogen- oder Alkoholprobleme, Missbrauch und Misshandlungen, vor allem als Kind, können eine Rolle spielen. Am Beispiel Rauchen zeigt sich dieses Zusammenspiel deutlich:
Das Kettenrauchen ist ein Risikofaktor, der die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass eine Person ein gesundheitliches Problem entwickelt. Aber wann und welches Problem das sein wird oder ob die Person vielleicht 100 wird, obwohl sie geraucht hat wie ein Schlot, das hängt nicht nur vom Rauchen ab, sondern auch von den biologischen Grundlagen der Person und von ihrem Lebensstil.
Zu diesen Risikofaktoren zählen eine Vielzahl von Umständen und Einflüssen. Wenn jemand Gewalt erlebt hat, missbraucht wurde zum Beispiel. Trotzdem ist es wichtig deutlich zu machen, dass ein Opfer nicht automatisch ein Täter wird. Opfer von Gewalt und Misshandlung werden nicht als Folge ihrer Erfahrungen selbst zu Verbrechern. Gewalt- und Missbrauchserfahrungen können ein kleines Steinchen in einem großen Mosaik sein, und nur bei einem kleinen Teil der Opfer führen diese Erfahrungen später zu aggressivem Verhalten.
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Können wir das Böse erkennen?
Ob ein Mensch kriminell wird, das entscheidet nicht ein Faktor, sondern eine ganze Reihe: Umwelt, Veranlagung, Erfahrungen. Kann man theoretisch bemerken, wenn man einem gefährlichen oder potenziell kriminellen Menschen gegenübersitzt?
Man kann Menschen nicht ansehen, wozu sie fähig sind. Auch Menschen, die ganz schwere Straftaten begehen, die habe trotzdem ganz viele Facetten, die sie nicht von anderen unterscheiden. Die sind dann auch der nette Nachbar oder der Arbeitskollege, der einem mal aushilft. (...) Aber man sollte davon ausgehen, dass in der Straße, in der ihr lebt, in dem Bekanntenkreis, den ihr habt, dass da Menschen sind, die schwere Straftaten begangen haben.

Der Gedanke, dass das Böse, kriminelles und aggressives Verhalten an einem einzigen Faktor festgemacht werden kann, ist verführerisch. Mögliche Kriminelle von Geburt an erkennen, per Gentest Schuld oder Unschuld beweisen, das klingt verlockend. Aber solche Überlegungen sind auch gefährlich. Sie stigmatisieren Menschen mit bestimmen genetischen Anlagen und stellen sie unter Generalverdacht. Es stellt sich auch die Frage: War es das Schicksal dieser Menschen, zu Straftätern zu werden und hätten sie dem überhaupt entgehen können?
Aber: Egal ob Menschen ungünstige genetische Veranlagungen aufweisen und ihr Umfeld und ihre Biografie das Risiko erhöhen, schwere Straftaten zu begehen, es entschuldigt einen zentralen Faktor nicht: Die Entscheidungen, die diese Menschen getroffen haben:
Es war leichter für sie als für einen anderen Menschen, diese Entscheidung zu treffen. Aber: Sie haben diese Entscheidung getroffen. Also wenn sie wissen: Ich darf das nicht. Und sie entscheiden sich: Ich will das aber. Und ich tu das jetzt. Dann sind sie verantwortlich!
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Fazit: Werden wir böse geboren?
Ein zurechnungsfähiger Mensch wird nicht zum Straftäter, ohne eine Entscheidung zu treffen. Menschen mit sexuellen Tötungsfantasien oder pädophilen Neigungen sind nicht automatisch böse oder werden zwangsläufig zu Verbrechern, solange sie sich entscheiden, dass sie keinem anderen Menschen Leid zufügen wollen.
Es sind die Entscheidungen, die Menschen böse oder gut sein lassen. Ob die eigenen Bedürfnisse über das Wohlergehen von anderen Menschen gestellt werden oder nicht. Das gilt für kleine Dinge im Alltag bis hin zu schweren monströsen Straftaten. Wir entscheiden, was wir tun. Nicht unsere Gene, nicht unsere Vergangenheit und auch nicht unsere Umwelt.