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Max Oehl
Moderator Max Oehl aus dem SWR1 Team. Zu hören unter anderem am Nachmittag, in SWR1 Die Nacht oder im SWR1 Verkehrsservice. (Foto: SWR)

Ein oft geteiltes Video wird im Netz gerade kontrovers diskutiert: Frühstücksfernsehen-Moderatorin Marlene Lufen spricht darin über die psychischen Probleme und Folgen des Lockdowns, über die angeblich „nicht gesprochen wird“. Stimmen die Zahlen?

Es geht um häusliche Gewalt, Gewalt gegen Kinder und psychische Probleme, die durch den Lockdown entstanden sind – wirtschaftliche Sorgen und Nöte und daraus resultierende Ängste. In ihrem Video, das jetzt bereits über neun Millionen Mal geklickt wurde, nennt Lufen viele Zahlen, die sie „selbst recherchiert hat“. Das Video macht zu Recht auf „Nebenwirkungen“ der Pandemie aufmerksam, die man so vielleicht oft nicht auf dem Schirm hat.

Berichterstattung über psychische Probleme in der Corona Pandemie

Marlene Lufen beginnt das Video mit der Aussage: „Wir schauen nur auf diese Infiziertenzahlen, die psychischen Probleme werden dabei nicht genug behandelt und es wird zu wenig darüber berichtet.“ Letzteres ist grundlegend falsch. In der Berichterstattung, sei es vom SWR, von SWR3 oder vielen anderen Medien, wird natürlich auch seit Beginn der Pandemie von den anderen Problemen, wie zum Beispiel „häusliche Gewalt oder psychische Folgen durch den Lockdown“ und die Pandemie gesprochen.

Die Moderatorin spricht dann davon, dass die Infiziertenzahlen und Zahlen der in Zusammenhang mit Corona verstorbenen Menschen nicht in ein Verhältnis gestellt werden würden. Sie suggeriert damit etwas Falsches: Es ginge der Regierung und den wissenschaftlichen Beratern nur um Zahlen. Die Probleme, die durch den Lockdown entstehen oder vergrößert werden würden, würden nicht berücksichtigt. Auch das ist falsch.
Es geht bei den Maßnahmen der Regierung, seien dies Lockdown oder Kontaktbeschränkungen, vor allem darum, dass das Gesundheitssystem nicht überlastet wird. Es muss sichergestellt werden, dass die normale Gesundheitsversorgung weiter gewährleistet werden kann. Dass nicht Triageentscheidungen zur Tagesordnung werden, also Entscheidungen darüber, wer zuerst behandelt werden kann und wer nicht. Dies kann bei einem überlasteten Gesundheitssystem geschehen.

Gewalt an Kindern während Corona gestiegen?

Im Video spricht Lufen dann von „23 Prozent mehr Fälle von Gewalt an Kindern in der Gewaltambulanz der Charité im ersten Halbjahr 2020.“ Diese Zahl stimmt und wurde letztes Jahr in einer Pressekonferenz vorgestellt.
Die Moderatorin fährt fort: „600.000 Kinder erleben zu Hause Schläge, Stöße und Schlimmeres. Das sind 6,5 % der Kinder in Deutschland.“

Fazit: Auch diese Zahl stimmt – zu beachten ist allerdings, dass es explizit um Zahlen VOR dem Lockdown geht. Die Corona-Maßnahmen wie Schul- und Kitaschließungen und dadurch resultierend fehlende Kontrollinstanzen, wie zum Beispiel Lehrer oder Erzieher, könnten diese Zahl leider erhöhen.

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Telefonseelsorge und Internetberatungen

Einen weiteren Punkt, den die Mutter und Moderatorin behandelt, ist die Nummer gegen Kummer. Sie sagt: „461.000 Kinder haben im Jahr 2020 die Nummer gegen Kummer gewählt. Allein die Online-Beratung hatte einen Zuwachs von 31 Prozent zum Vorjahr. Diese 31 Prozent entsprechen 10.428 Kontaktaufnahmen durch Kinder und Jugendliche in Not mehr als sonst.“

Wir haben direkt bei der Nummer gegen Kummer angefragt. Antwort: „Das Anrufaufkommen am Kinder- und Jugendtelefon (KJT) sowie auch die Anzahl der Beratungen bewegen sich 2020 ungefähr auf dem hohen Vorjahresniveau. So wurden im Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Dezember 2020 97.046 Beratungen am KJT geführt, dies waren 2 Prozent weniger als 2019 (99.229 Beratungen).“

Allerdings fügt die Nummer gegen Kummer hinzu: „Eine deutliche Steigerung zum Vorjahr hingegen haben wir in der Online-Beratung für Kinder und Jugendliche zu verzeichnen. Hier wurden im gleichen Zeitraum insgesamt 13.698 Beratungen geführt, dies sind 31 Prozent mehr als im Vorjahr (10.428 Beratungen). Den höchsten Anstieg haben wir am Elterntelefon zu verzeichnen. Im oben genannten Zeitraum 2020 haben wir 17.798 Beratungen am ET geführt, was 64 Prozent mehr sind als noch im Vorjahr (2019: 10.383 Beratungen)“

Fazit: Auf die Zahl der Anrufe bei der Telefonseelsorge scheint der Lockdown nicht direkt einen Einfluss gehabt zu haben, jedoch wohl auf die Beratungsgespräche, die digital geführt wurden. So haben mehr Jugendliche Rat per Chat bei den Experten gesucht. Allerdings muss man beachten: Von 2018 auf 2019 war der Zuwachs im Vergleich dazu höher, nämlich bei ca.35 Prozent. Und die Berater waren durch ein höheres Budget und bessere Erreichbarkeitszeiten auch einfacher zu kontaktieren.

Weitere Beratungsangebote, die Lufen anspricht, sind die Jugendnotmail und die Online-Jugend- und Elternberatung. Die Moderatorin sagt: „Sie verzeichnen Steigerungen seit März 2020 um zeitweise 50 Prozent.“

Die Jugendnotmail schreibt dazu in einer Pressemitteilung: „Zwischen Ratsuchenden und Beratenden wurden im vergangenen Jahr mehr als 15.000 Nachrichten bei der Online-Beratung Jugend Notmail ausgetauscht. Das ist eine Steigerung um 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. In 2020 wurden mehr als 2.750 Einzelberatungen durchgeführt. Das sind rund 20 Prozent mehr als im Vorjahr.“ Das sind zusammengefasst aber nicht gleichbedeutend 50 Prozent mehr Beratungen insgesamt.

Lufen fährt fort und spricht von Kindern mit suchtkranken Eltern im Haushalt: „2,6 Millionen Kinder leben – auch ohne Corona – mit suchtkranken Eltern unter einem Dach.“
Korrekt, allerdings liegen keine aktuelleren Zahlen vor als die aus dem Jahr 2016.

Gewalt gegen Frauen während Corona gestiegen

„Das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen verzeichnet seit April 2020 einen sprunghaften Anstieg an Beratungen von 15 bis 20 Prozent“, sagt Lufen dann weiter.

Stimmt. „Gerade die letzten Monate unter den Bedingungen der Corona-Pandemie haben die Bedeutung von Unterstützungsangeboten für gewaltbetroffene Frauen und ihre Kinder gezeigt. Die Leiterin des Frauenhilfetelefons, Petra Söchting, betonte, dass die Beratungskontakte seit April um circa 20 Prozent gestiegen seien. Noch sei es zu früh, zu beurteilen, ob dies an einer Zunahme der Gewalt liege oder aber an der Tatsache, dass seit Beginn der Pandemie auch verstärkt auf das Hilfetelefon hingewiesen werde.“ Auch Lufen selbst spricht von ihren eigenen Erwähnungen des Hilfetelefons in ihren Sendungen.

Sind psychische Probleme von Kindern und Jugendlichen durch Corona gestiegen?

Dass die psychischen Probleme von Jugendlichen durch Einsamkeit, fehlenden schulischen Alltag oder fehlende Betreuung in anderen Einrichtungen zunimmt, sprich der Lockdown sie bedrückt, ist nachvollziehbar. Lufen spricht in diesem Zusammenhang von folgenden Zahlen: „67 Prozent der Jugendlichen zwischen 18 und 24 fühlen sich zurzeit überdurchschnittlich psychisch belastet.“

Es ist nicht ganz klar, woher Lufen diese Zahl hat. Noch gibt es keine ausführlichen Studien zu dieser Thematik, die Tendenz scheint aber zu stimmen: „Viele junge Menschen haben nach einer Mannheimer Studie während der Corona-Krise unter großen Sorgen, Ängsten oder depressiver Stimmung gelitten. 57 Prozent von 666 befragten 16- bis 25-Jährigen waren belastet, 38 Prozent mittel bis schwer, wie das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) gestern mitteilte.

Alleinlebende Menschen und Essstörungen

Auch das Thema Essstörungen, besonders Magersucht, geht Lufen an. Sie sagt: „800.000 Menschen leiden in Deutschland an Magersucht. 6 bis 10 Prozent sterben daran. Seit Herbst gibt es 10 bis 20 Prozent mehr Anfragen nach Therapieplätzen.“ Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bestätigt diese Zahlen.

„In 50 Prozent der Haushalte leben Menschen allein“, sagt Lufen dann weiter. Das stimmt so nicht und erneut gibt es keine aktuellen Zahlen. Die Daten aus der letzten Erhebung des statistischen Bundesamtes sprechen von rund 42 Prozent im Jahr 2018.

Verschlimmert Corona die Situation von Menschen, die an einer Depression erkrankt sind?

„74 Prozent der an Depressionen Erkrankten geben in einer Befragung an, durch den Lockdown extrem belastet zu sein.“ Das stimmt, allerdings geben auch 59 Prozent der nicht an einer Depression erkrankten Menschen an, dass sie der Lockdown belastet. Und interessant: 32 Prozent gaben an, dass der Lockdown sogar teilweise positive Effekte auf ihre Gesundheit gehabt habe.
Fazit: Stimmt nur teilweise.

Gegen Ende des Videos sagt Lufen, dass das „was drum herum passiert viel viel schlimmer ist als der Lockdown selbst“ – und erwähnt dabei nicht, was ohne Lockdown wäre: Ohne Lockdown wären mit sehr großer Wahrscheinlichkeit die Krankenhäuser überlastet, wäre das Gesundheitssystem zusammengebrochen und es gäbe viel mehr Tote und Erkrankte durch das Coronavirus. Auch das kann psychische Folgen für Betroffene und Angehörige haben – das erwähnt Lufen nicht.

Sie sagt außerdem: „In Altersheime sollte nur noch jemand rein, der negativ getestet wird“. Dies ist bereits bei Altersheimen, in denen sehr viele Bewohner infiziert sind, der Fall.

Fazit: Viele der im Video angesprochenen Zahlen scheinen eine richtige Tendenz anzugeben, sind aber teilweise nicht aktuell oder korrekt belegbar. Lufen ordnet ihre Zahlen auch nicht final ein. Ihre Absicht, auf psychische Probleme und Folgeschäden durch den Lockdown aufmerksam zu machen, ist bestimmt wichtig. Sie erwähnt aber nicht, was die Alternative zu einem Lockdown wäre. Sie spricht außerdem aus einer „Zukunftsposition“ – „in zwei bis drei Jahren blicken wir zurück und sagen der Lockdown war das Falscheste, was wir hätten machen können“ – und erwähnt auch dabei nicht, was die Alternative wäre.

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