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Sara Talmon
SWR3 Moderatorin Sarah Talmon (Foto: SWR3)
Onlineversion: Sandra Tiersch, Kira Urschinger

Sterben Dialekte aus oder sind sie wieder modern geworden? Hat der Dialekt etwas mit dem Bildungsgrad zu tun? Schadet er der Karriere? Wir klären zusammen mit einem Sprachforscher, was an Mythen und Behauptungen dran ist.

Vortrag von Prof. Dr. Hubert Klausmann, Universität Tübingen (Foto: imago/Arnulf Hettrich)
Sprach- und Dialektforscher Prof. Dr. Hubert Klausmann

1. Dialekte sterben aus.

Professor Dr. Hubert Klausmann: „Sprache verändert sich immer. Das heißt, der Dialekt stirbt nicht aus, aber er verändert sich und er wird einfach überregionaler.“ Laut Klausmann verschwinden die kleinen, örtlichen sprachlichen Besonderheiten. Man spreche dann irgendwann zum Beispiel den Dialekt, den man auch in 20 Kilometern Entfernung noch spricht. Trotzdem gebe es die Bedrohung durch die Standardsprache (was wir umgangssprachlich als Hochdeutsch bezeichnen). Sie könne dazu führen, dass immer weniger Menschen überhaupt noch Dialekt sprechen.

2. Nur in Norddeutschland sprechen die Menschen richtiges Hochdeutsch.

Hubert Klausmann: „Das ist das Vorurteil, mit dem wir seit 200 Jahren leben. Allerdings ist nachgewiesen, dass das nicht stimmt.“ Sogenanntes Hochdeutsch gibt es im Norden, im Süden, im Osten und im Westen Deutschlands – natürlich mit Unterschieden in der Aussprache und mit unterschiedlichen Vokabeln. Alle diese Sprachen seien richtig und verständlich, sagt Klausmann. Allerdings gelte in vielen Köpfen nur das sogenannte Hannover-Deutsch als richtiges Hochdeutsch. Von dem Gedanken, dass es ein einheitliches Hochdeutsch geben müsse, hätte sich die Germanistik allerdings schon lange verabschiedet. Es sei wichtig, die Sprachvarianz und den Sprachalltag zu akzeptieren. Jeder wisse, dass man zu „Porree“ auch „Lauch“ sagen kann, oder zu „Brötchen“ zu „Semmel“.

3. Gebildete Menschen sprechen keinen Dialekt, sondern Hochdeutsch.

In den 60er-Jahren setzte sich das Bild durch, dass Menschen, die Dialekt sprechen, ungebildeter seien, sagt Klausmann. Lehrer versuchten Schülern daraufhin Hochdeutsch beizubringen. Allerdings habe Dialekt bzw. dialektale Sprache in der Realität nichts mit dem Bildungsgrad zu tun. Es gebe sie zum Beispiel in Süddeutschland in allen sozialen Schichten und Gruppierungen. Als Beispiel nennt Klausmann den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann oder SC-Freiburg-Trainer Christian Streich.

Dialekt ist kein sozialer Marker!

4. Dialekte sind wieder modern.

Hubert Klausmann: „Im Zuge der Globalisierung hat das Regionale ganz großen Zuspruch bekommen.“ Der Dialekt sei zum Beispiel interessant für die Werbung. Das Regionale werde positiv gesehen – als verwurzelt und echt. Das sehe man auch in vielen Speisekarten von Restaurants. Ob es helfe, den Dialekt zu erhalten, sei allerdings fraglich.

Auch Werbe-Experte Matthias Harbeck geht davon aus, dass Dialekte in der Werbung funktionieren können.

5. Dialekte schaden der Karriere.

Hubert Klausmann: „In lokalen Betrieben kann Dialekt sehr vorteilhaft sein“. Wenn ich den gleichen Dialekt spreche, wie meine Kollegen komme das natürlich gut an. Außerdem sind einige Neurolinguisten mittlerweile der Meinung, dass Menschen, die sowohl Hochdeutsch als auch einen Dialekt sprechen, leichter Fremdsprachen lernen könnten. Man habe sozusagen ein zweites Register im Kopf.

Dialekt könne in der Arbeitswelt aber auch negativ auffallen, weil manche Menschen glauben, dass man als Global Player eben das norddeutsche Hochdeutsch sprechen müsse, so Klausmann.

Dialekt: Bereicherung oder Karrierehindernis?

Wo fängt die Diskriminierung an?

Frau präsentiert Miniaturausgaben von Wörterbüchern mit verschiedenen deutschen Dialekten (Hessisch, Plattdeutsch, Sächsisch, Schwäbisch, Berlinerisch und Bairisch). (Foto: dpa - Bildfunk)

Dialektsprecher im normalen Alltag werden jedoch häufig benachteiligt, meint Hubert Klausmann.

Er gibt ein Beispiel aus einem bayerischen Schulbuch: Darin ist ein schwäbisches Mädchen abgebildet, das an einem Bäckerstand in Frankfurt eine „Semmel“ bestellt. Drunter steht „Warum verstehen die Erwachsenen das Kind nicht?“. Der Sprachforscher ist der Meinung, dass jeder das Mädchen versteht, egal ob es das schwäbische Wort „Semmel“ oder das vermeintlich hochdeutsche Wort „Brötchen“ verwendet.

Die Aufgabe im Schulbuch sei daher diskriminierend. Auch in der Arbeitswelt komme es häufig zu Diskriminierungen. Klausmann spricht von Beurteilungen, in denen es zum Beispiel heißt: „Sie waren gut, aber sprechen noch sehr stark Schwäbisch.“ Dabei spreche die Person nichts anderes, als einen sch-Laut anstelle eines ch-Lauts.

Was in Deutschland helfen würde, wäre lockerer mit Sprach-Varianten umzugehen, um die sprachliche Vielfalt zu erhalten. Völlig neutrales Hochdeutsch ohne dialektale Färbung werde ohnehin von sehr wenigen Menschen gesprochen.

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