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Gabi Biesinger, Mirja Raff

„Dass ich jetzt hier stehe und es ist eigentlich ganz okay, dafür bin ich sehr dankbar.“ Das war nicht immer so bei Stefan*. Wir stehen am Fenster. Unten ist ein Parkplatz. Vierter Stock. Was ist es für ein Gefühl für ihn raus zu gucken? „Ein bisschen merke ich, wie sich meine Gedanken lieber anderen Sachen widmen würden, aber ich weiß, dass es für mich in meinem Leben manchmal kaum möglich war in den dritten Stock zu gehen.“

Stefan hat hart dafür gekämpft, dass er heute beim Blick aus seinem Fenster relativ gelassen bleibt. Als Student packt ihn zum ersten Mal die Höhenangst. Der Seminarraum liegt im sechsten Stock und Stefan spürt, dass etwas nicht stimmt.

Ich habe einfach gemerkt ich fange an zu schwitzen, ich werde nervös und vor allen Dingen dieses 'ich will hier weg, wie komm ich raus, gibt es Fluchtwege'?

Höhenangst (Foto: Westend61 / imago)
Höhenangst (Symbolbild) Westend61 / imago

Bei einem Auslandsaufenthalt wird aus dem Unwohlsein zum ersten Mal Panik. Der Hausmeister zeigt Stefan sein Zimmer im 13. Stock des Studentenwohnheims. „Ich bin innerlich komplett zusammengekracht. Es war wirklich so, dass ich oben stand und für einen Moment das Gefühl hatte: Jetzt sterbe ich. Wenn das Fenster offen gewesen wäre, wäre das die schnellste Fluchtmöglichkeit gewesen. Nicht im Sinne, dass ich irgendwie suizidal wäre, sondern ich wollte einfach nur weg.“

Ständig auf der Flucht

Nach diesem extremen Angstanfall traut Stefan sich kaum noch aus der eigenen Wohnung. Seine Beziehung zerbricht, in seinem Kopf gibt es nur noch ein Thema: „Ich war nur noch mit mir selbst beschäftigt, hab alles versucht zu tun, dass dieses Gefühl nicht mehr entstehen kann. Dieses Gefühl des Fliehens müssen. Dass man merkt da passieren Dinge, die habe ich nicht mehr unter Kontrolle. Das ist der Horror. Also organisiert man sein Leben darum: Wie schaffe ich es, dass solche Situationen nicht mehr entstehen.“ Was Stefan zusätzlich quält ist die ständige Angst vor der Angst:

Man muss sich das wirklich vorstellen, wie einem die Kraft ausgesaugt wird. Man merkt, das was ich zum Leben brauche, was meine Gefühle bestimmt, das ist nicht mehr da.

Therapiekonzept: Kontrollverlust

Bettentürme des Uniklinikums Münster (Foto: imago / Rüdiger Wölk)
Bettentürme des Uniklinikums Münster imago / Rüdiger Wölk

Endlich kann Stefan sich zu einer Verhaltenstherapie durchringen. Mit seiner Therapeutin stellt er eine Liste seiner Horrorszenarien auf. Ihr Vorschlag: Mit dem Fahrstuhl in den Bettenturm der Uniklinik, 26. Stock – die totale Konfrontation. „Das Therapiekonzept: Ich gehe dahin und ich verliere die Kontrolle.“ Der Entschluss sich mit seiner Höhenangst zu konfrontieren und mit seiner Therapeutin aufs Hochhaus zu fahren, kostet Stefan schier unendliche Überwindung: „Ich weiß noch ich habe zum meinem WG-Mitbewohner damals gesagt als ich zur Therapie ging: Heute sterbe ich! Ja nicht unbedingt sterben, sondern tatsächlich das Gefühl zu haben wenn ich in diese Situation gehe, die mich maximal in meiner Persönlichkeit runterhauen kann, dass ich in dieser Situation komplett durchdrehen könnte.“

„Das wird richtig schlimm“

Seine Therapeutin macht ihm klar, dass es darum ginge zu erleben, dass Körper und Psyche eben nicht komplett durchdrehen, wenn man die Angst nur lange genug aushält. „Tut mir leid,“ hat die Therapeutin gesagt, „das wird richtig schlimm. Ihre Hirnstammfunktionen setzen aus. Aber, das können die nicht mehr als 20 Minuten. Nach 20 Minuten wird es so sein, dass ihre Angst verbraucht ist und dann bleibt einem nur noch übrig entspannt zu sein, weil der Rest ist alles weg.“ Und tatsächlich: Stefan spürt nach einer halben Stunde Erleichterung.

Die Therapeutin hat mir gesagt: Jetzt haben sie es überlebt. Wie geht es ihnen? Und ich hab tatsächlich danach gesagt: Jetzt geht es mir richtig gut.

Los ist Stefan seine Höhenangst danach trotzdem nicht. Immer wieder zwingt er seitdem seinen Körper auf Türme und hohen Gebäude durch die Panik, bis sie nachlässt. Nach und nach traut er sich immer mehr zu, fliegt inzwischen sogar mit seiner Familie in den Urlaub, was ihn sehr stolz macht. Wochen vor den Ferien beginnt jedes Mal sein Höhentraining. „Wenn ich weiß ich fliege, werde ich mir wieder ein Zwei-Wochen-Programm machen und die Stadt von oben betrachten. Ich gehe in Hochhäuser, ich gehe in die örtliche Kathedrale auf 240 Stufen bis oben auf die freie Aussichtsplatte und es ist tatsächlich so: ich zittere zwei Minuten, merke die Angst körperlich, das ist schon heftig.“

„Meine Kinder haben keine Angst“

Im Urlaub freut ihn am meisten, dass seine Kinder die Probleme des Vaters zwar kennen, aber nicht am eigenen Leib spüren. „Meine Kinder sind unängstlich. Das ist das Schönste in meinem Leben. Mein Sohn fliegt nach Italien mit 16, meine Tochter liebt es auf 3000ern in der Schweiz Skiurlaub zu machen, das ist für mich unfassbar. Meine Kinder haben keine Angst.“ Seine Familie und Freunde wissen von Stefans Problemen, doch den Arbeitskollegen hat er seine Geschichte nie erzählt. „Ich habe nie über meine Angst geredet und das weiß eigentlich keiner. Das ist mein Privatleben. Wenn ich unter Inkontinenz leiden würde, möchte ich auch nicht, dass das jemand weiß…blödes Beispiel, aber ich finde das nach wie vor richtig.“

Wenn Stefan mit seinen Unikollegen einen Kongress besucht und der Tagungsraum liegt überraschend im 20. Stock, wie käme er aus der Nummer raus? „Normalerweise würde ich mir eine Auszeit nehmen und sagen 'ich geh noch einen Kaffee trinken'. Dann würde ich glaube ich tatsächlich die Treppe gehen. Ich würde eine Phase voranschalten, wo ich sage: Ich widme mich meiner Angst.“

Angst als Krankheit annehmen

Stefan hat die Angst als Teil seines Lebens angenommen, so wie andere Menschen sich auf körperliche Erkrankungen wie Diabetis oder Asthma einstellen müssen. „Es ist eine Art chronische Erkrankung, die ich habe. Erstaunlicherweise hat es mir geholfen, das zu begreifen, wie bei vielen Dingen, die unangenehm sind. Wenn man es irgendwie gemeistert bekommt, ist das auch etwas wo man sagen kann, das ist etwas, was mich als Mensch stärker gemacht hat. Aber kein Vertun, ich hätte wahnsinnig gerne darauf verzichtet.“

* Name von der Redaktion geändert

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Gabi Biesinger, Mirja Raff

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