Jahrelang haben Experten Täter und Opfer befragt, Akten ausgewertet. Am Dienstag dann ein regelrechtes Erdbeben: Der Bericht zum Missbrauch durch Priester im Erzbistum Freiburg enthält schier unfassbaren Zahlen. Über 540 Kinder und Jugendliche wurden missbraucht, mehr als 250 Priester sollen Täter sein.
Der frühere Erzbischof von Freiburg und frühere Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, hat mehr als drei Jahrzehnte lang sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen systematisch vertuscht.
Missbrauch im Erzbistum Freiburg: Björn aus dem Kraichgau ist auch betroffen
Bis hierher sind es trockene und unpersönliche Fakten, trotzdem extrem beschämend und kaum zu fassen. Für die Betroffenen des sexuellen Missbrauchs sind das aber zum Teil Erinnerungen, die sie ihr Leben lang begleiten und zum Teil auch traumatisiert haben. Wie gehen sie damit um?
Björn ist heute 44 Jahre alt, führt ein gutes Leben, die Kinderzeit ist lange her. Die Erinnerungen daran allerdings nicht. Er ist einer der 540 Kinder und Jugendlichen. Er wurde als Kind von einem Pfarrer im Erzbistum Freiburg sexuell missbraucht.
Über Missbrauch reden: „Ich will den anderen Betroffenen Mut machen, ihre Geschichte zu erzählen.“
Damals war er in der Grundschule in einer Gemeinde im Kraichgau. Björn teilt seine Geschichte, weil er sagt: „Ich will den anderen Betroffenen Mut machen, ihre Geschichte zu erzählen.“
Dieses Denken ‚ich kann das nicht erzählen, was sollen denn die anderen denken‘ ist falsch. Wir sind Opfer, nicht Täter.
Im Alter von acht Jahren begann es für Björn „unangenehm zu werden, wenn der Pfarrer auftauchte“. Zweimal in der Woche in der Schule im Religionsunterricht und natürlich am Wochenende in der Kirche: ‚Ich war ja als „Liebling“ vom Pfarrer auch brav Ministrant.‘

Vertuschung bei Fällen von Missbrauch im Erzbistum Freiburg
Der Pfarrer begann irgendwann, Björn und seinen Freund zu küssen. Mal fuhr er die Jungs heim und hielt unter einer Brücke, mal verging er sich im Pfarramt an den Kindern. Der Pfarrer erzählte ihnen, er wäre als Missionar in Afrika gewesen und dort wäre das Küssen untereinander total normal. Björn dachte sich nichts dabei, so war das dann eben: „Also warum sollten wir da etwas böses vermuten?“
Zum Glück hat sich alles nur aufs Küssen und streicheln beschränkt – dass dieser Mann das nicht durfte, war uns damals nicht klar. Wir waren acht, neun Jahre alt und unschuldig. Während die Kinder in dem Alter heute zum Teil schon Pornos schauen, wussten wir noch nicht einmal etwas von Sexualität.
Björn ist mittlerweile selbst Vater von zwei minderjährigen Kindern und kann gut über den Missbrauch reden – auch den Kindern hat er seine Geschichte erzählt.
Als wir mit ihm über die Dimension sprechen, dass über 250 Priestern Kinder angefasst haben sollen, schluckt er. Und relativiert dann seine Geschichte: „Er hat uns zum Glück nur geküsst. Das ist ja irgendwie dann sexueller Missbrauch light, oder?“
Als Kind vom Pfarrer missbraucht und niemandem davon erzählt
Björn hat sich niemandem anvertraut damals:
Es gab ja keinen Grund. Heute würde ich sagen, dass wir unaufgeklärt und naiv waren. Aus der Sicht eines Erwachsenen. Als Kinder haben wir nichts Falsches getan.
Trotzdem kam die Geschichte raus, eher durch einen Zufall. Die Schwester seines ebenfalls missbrauchten Schulfreundes saß daheim auf dem Sofa und knutschte mit ihrem Freund. Der Schulfreund sagte dann ganz unbedarft: „Das macht der Pfarrer auch mit uns!“ So kam die Geschichte ins Rollen.
Sexualisierte Gewalt in der Kirche Missbrauchsbericht: "Toxische Strukturen" im Erzbistum Freiburg
Nach der Veröffentlichung des Missbrauchsberichts im Erzbistum Freiburg ist klar: Kirchliches Recht wurde zugunsten von Tätern ignoriert. Der Bericht beleuchtet 45 Jahre unter drei Erzbischöfen.
Fälle von Missbrauch in der Kirche: Gibt es Konsequenzen für Pfarrer?
„Die Eltern meines Freundes haben Anzeige erstattet und eines Tages kamen zwei Kripo-Beamte vorbei und haben sich mit mir über die Sache unterhalten. Ich habe alles beantwortet und einige Zeit später war dann die Gerichtsverhandlung. Der Pfarrer wurde zu 8.000 Mark Geldstrafe verurteilt und soweit ich weiß von Robert Zollitsch in eine Kirchengemeinde nach Bayern versetzt.“
Heute, erzählt Björn, googelt er immer mal wieder nach dem Namen des Pfarrers, in der Hoffnung, noch Infos darüber zu bekommen, ob er weiter Kinder belästigt oder missbraucht hat. „Und – um ehrlich zu sein – habe ich auch darüber nachgedacht, ihn aufzusuchen. Aber letztendlich kann er froh sein, dass ich ihn nie gefunden habe. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn ich ihn gefunden hätte.“
An ein ehrliches Gespräch mit dem Täter hätte Björn nicht geglaubt: „Auch wenn ich ihm gegenübergestanden hätte, ich glaube nicht, dass ich ehrliche Antworten oder zumindest eine Entschuldigung von ihm bekommen hätte. Und ich weiß nicht, was das mit mir gemacht hätte.“ Somit habe er es aufgegeben, nach dem Aufenthaltsort des Pfarrers zu suchen.
Ich meine aber, dass ich irgendwann eine Todesanzeige von dem Herrn gefunden hätte. Das war so ein bisschen Genugtuung.
Björn hat jeglichen Glauben verloren und ist Atheist
Was die Gefühle zur katholischen Kirche angeht, sagt Björn: „Die gibt es nicht.“ Er war gläubiger Katholik, heute ist er überzeugter Atheist. Seine Kinder sind nicht getauft, weil er wollte, dass sie sich selbst dafür entscheiden sollen, einer Kirche anzugehören, wenn sie das wollen. Aber die „wollen das bis heute nicht.“
Als ich in die Pubertät gekommen bin und so langsam realisiert habe, was da mit mir gemacht wurde, bin ich aus der Kirche ausgetreten. Für mich war klar: Mit so einer verlogenen Institution will ich nichts mehr zu tun haben.
Als Kind missbraucht: „In dieser Sekunde ist etwas in mir gestorben“
Björn fällt es nicht schwer, über seine Erlebnisse zu sprechen. Zwar liegt der Missbrauch schon über 30 Jahre zurück – vieles ist aber bis heute präsent geblieben. „Ich hatte lange Probleme, jemanden auf den Mund zu küssen. Auch heute gibt es noch Momente, in denen ich das komisch finde.“
Je älter ich geworden bin und je mehr ich verstanden habe, desto größer ist meine Wut auf die katholische Kirche und ihre Verantwortlichen geworden. Damals wurden die Täter einfach versetzt und man hat alles unter den Teppich gekehrt. Heute ist es nicht viel besser – ich glaube immer noch nicht, dass es ein wirkliches Interesse daran gibt, diese Jahrzehnte oder Jahrhunderte von systematischem Missbrauch in dieser Institution aufzuklären. Dafür ist die Masse an Fällen einfach zu groß.