178 Seiten lang ist der Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien und will große Zukunftsfelder vom Klimaschutz über Bauen und Wohnen, Mindestlohn, Bürgergeld bis hin zu Rente und Pflege abdecken. Aber kann das auch gelingen? Wir haben für euch Stimmen aus dem In- und Ausland sowie aus Politik und Wirtschaft zusammengetragen, damit ihr euch ein besseres Bild machen könnt.
Ampel-Koalition startklar: Was steht drin im Vertrag?
Kritik aus der Union
Der Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien hat Kritik ausgelöst. Unions-Fraktionschef Ralph Brinkhaus sagte, er erkenne den angekündigten Aufbruch nicht. Nach Ansicht von CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak ist unklar, wie die Vorhaben der neuen Koalition finanziert werden. Auch die Linke zeigte sich unzufrieden. Deren Fraktionschefin Amira Mohamed Ali sagte, abgesehen vom Mindestlohn sei der Koalitionsvertrag ein „sozialpolitischer Rohrkrepierer“. Alternativ könnte dessen Titel auch „Ganz viel Rücksicht auf die FDP“ lauten.
Linke: Sozialpolitik wird von der FDP bestimmt
Die Linke sieht vor allem den Bereich der Sozialpolitik im Koalitionsvertrag kritisch. „Hartz-IV wird umbenannt und in einiger Hinsicht verbessert, die entscheidenden Probleme, Sanktionen und intransparente, unzureichende Festlegung der Höhe, bleiben aber. Damit werden Menschen in Arbeitslosigkeit weiter mehr bestraft als unterstützt,“ heißt es in einer Pressemitteilung der Partei. Viele Fragen blieben auch bei der Kindergrundsicherung und der Altersvorsorge offen, so die Partei. Insgesamt sei der Koalitionsvertrag in Sachen Sozialpolitik von der FDP bestimmt.
AfD spricht von Gängelung und Bürger-Abzocke
„Diese Regierung wird für die Bürger so teuer werden wie keine zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Finanzielle Belastungen und der Abbau von Bürgerrechten werden neue Rekorde aufstellen“, schreibt Fraktionsvorsitzende Alice Weidel in einer Pressemitteilung der AfD. Co-Vorsitzender Tino Chrupalla warnt vor „schweren Zeiten“. Wirtschaft und Wohlstand würden einer Klima-Ideologie untergeordnet.
Grüne Jugend: Koalitionsvertrag ist kein großer Wurf
Die Grüne Jugend sieht den Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien insgesamt „mit gemischten Gefühlen“. Defizite gebe es vor allem in den Bereichen Klimaschutz und Verkehr, sagte der Bundessprecher der Grünen-Nachwuchsbewegung, Timon Dzienus. Die Bundessprecherin der Grünen Jugend, Sarah-Lee Heinrich, sprach von „keinem großen Wurf“.
Baden-Württembergischer Gemeindetag kritisiert Finanzierung
Der Gemeindetag Baden-Württemberg hält die Versprechen der Ampel-Koalition in der Sozialpolitik und die geplanten Zukunftsinvestitionen für finanziell nur schwer vereinbar. Der Vertrag sei zwar durchaus mutig, doch SPD, Grüne und FDP müssten auch die Frage beantworten, ob sie genügend Mittel dafür hätten. Denn die Ampel wolle in der Sozialpolitik ein „Füllhorn“ ausschütten, um kurzfristig den Wohlstand abzusichern. Das lasse sich aber nur schwer in Einklang bringen mit den dringend notwendigen Investitionen in den künftigen Wohlstand, sagte Gemeindetagspräsident Steffen Jäger.
Hanfverband freut sich
Der Deutsche Hanfverband spricht auf Twitter von einer mutigen Entscheidung. Allerdings fordert er, dass auch der Eigenanbau berücksichtigt werden solle. Der Koalitionsvertrag sieht vor, dass lizenzierte Geschäfte Cannabis ausschließlich an Erwachsene verkaufen dürfen. Diese Händler müssen außerdem Qualitätsstandards erfüllen.
Wohnungslose finden das Bauprogramm gut
Die Selbstvertretung wohnungsloser Menschen findet die Pläne zum Bau von jährlich 400.000 neuen Wohnungen und der Verlängerung der Mietpreisbremse gut. Allerdings müsse rechtlich mehr getan werden, so die Initiative. Im Grundgesetz solle der Satz ergänzt werden: „Jeder Mensch hat das Recht auf eine Wohnung.“
Bitcom Verband: Ressort der Digitalisierung ist bei FDP in guten Händen
Dass das Digital-Ressort an die FDP gehen soll, findet der Bundesverband für Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (Bitkom) richtig. Es sei die Partei, „die sich mit einer umfassenden Digital-Kompetenz ausgestattet und das Thema im Wahlkampf am stärksten gemacht hat“, so der Hauptgeschäftsführer Bernhard Rohleder bei phoenix. Er sei überzeugt, dass von der künftigen Ampel-Regierung ein wichtiger Schub für die Digitalisierung im Land ausgehen könne.
Missbrauchsbeauftragter spricht von großem Fortschritt
Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, begrüßt die Vorhaben der künftigen Ampel-Koalition zur Bekämpfung von sexuellem Kindesmissbrauch. Der Koalitionsvertrag bilde „ein gutes Fundament“, um die Aufgaben und die Unabhängigkeit des Amtes des Missbrauchsbeauftragten gesetzlich zu regeln. Rörig selbst wird das Amt aufgeben, sobald über die Nachfolge entschieden ist.
Deutscher Journalistenverband sieht Lücken
Aus Sicht des Deutschen Journalisten-Verbandes (DJV) mangelt es im Koalitionsvertrag an klaren Aussagen zur Zukunftssicherung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Zudem fehle in dem Papier die Einführung eines Verbandsklagerechts zur Durchsetzung von Urheberrechten.
Nachbarland Frankreich hofft auf schnelle Zusammenarbeit
„Wir hoffen, dass wir bald mit der nächsten deutschen Regierung zusammenarbeiten, insbesondere mit Blick auf die französische EU-Ratspräsidentschaft“, betonte der Sprecher des französischen Außenministeriums am Donnerstag in Paris. Ausdrücklich gelobt wurde das „Engagement für die europäische Souveränität“, die Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sehr am Herzen liegt. Das betrifft gemeinsame Rüstungsprojekte ebenso wie gemeinsame Militäreinsätze, bei denen Deutschland traditionell zurückhaltender ist als das Nachbarland. Frankreich übernimmt am 1. Januar 2022 turnusgemäß den Vorsitz des EU-Rats. „Paris ist erleichtert, dass bis dahin eine neue Regierung im Amt sein wird“, sagte Paul Maurice, Politologe vom Forschungsinstitut Ifri für internationale Beziehungen.
Internationale Pressestimmen
Das sagen internationale Zeitungen und Medien zum Koalitionsvertrag:
Olaf Scholz von der SPD wird also der nächste Kanzler. Die Aufgabe, diese bunt zusammengewürfelte Koalition beisammen zu halten, wird jedoch nicht einfach. Die neuen deutschen Spitzenpolitiker werden nunmehr nicht nur in ihren Worten, sondern auch in ihren Taten beweisen müssen, dass sie Sparmaßnahmen und wirtschaftlichen Aufschwung, Klimawende und soziale und gesellschaftliche Veränderungen, wie etwa die Legalisierung von Cannabis, miteinander vereinen können.
Aus dem Vertrag folgt, dass Berlin zu einem konstruktiven Dialog mit Moskau bereit ist und auch russischen Bürgern bis 25 Jahre eine visafreie Einreise erlauben will. Die wahrscheinliche neue Bundesaußenministerin Annalena Baerbock ist zwar nicht nur einmal mit kritischen Äußerungen an die Adresse Moskaus aufgetreten, doch ruft man in den staatlichen Strukturen der Russischen Föderation dazu auf, daraus keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.
Der neue Kanzler, der auf Angela Merkel folgen soll, wird Olaf Scholz sein. Sein relativer Erfolg in der Abstimmung im September beruhte auf der Wahrnehmung, dass er nach der Merkel-Ära ein wenig verändern würde, aber nicht zu viel. Der Koalitionsvertrag, den er ausgearbeitet hat, bestätigt dies. Was den politischen Kurs angeht, so betreffen die wichtigsten Elemente des Koalitionsvertrags das Klima. Das war der Preis, den Scholz zahlen musste, um die Grünen an Bord zu behalten. (...) Die Deutschen haben abgestimmt, als wollten sie eine Regierung, die wichtige Auseinandersetzungen über die wirtschaftliche oder strategische Ausrichtung des Landes aussitzt. Der Wunsch der Wähler wurde zur Koalition von Scholz.
Scholz wird am 7. oder 8. Dezember zum Kanzler gewählt werden, so viel steht fest. Doch statt den großen Aufbruch anzukündigen, muss seine Regierung als Erstes die Pandemie unter Kontrolle bringen, im schlimmsten Fall, indem sie das Land erneut mehr oder weniger stilllegt. Für welche Corona-Politik Merkels Nachfolger steht, weiß Deutschland trotz monatelangem Wahlkampf noch nicht. Es wird es aber schnell herausfinden.
Es ist eine großartige Nachricht und mit Sicherheit auch eine große Erleichterung, dass Deutschland, die unbestrittene Lokomotive Europas, ohne weitere Verzögerung eine neue Regierung haben wird. Das Land braucht eine starke und voll handlungsfähige Führung, um vor allem die schlimmste Infektionswelle seit Beginn der Coronavirus-Pandemie zu bewältigen. (...) Und im Rest der Welt, vor allem im EU-Club, häufen sich Herausforderungen wie die Migrationskrise an der Grenze zwischen Polen und Belarus, der latente Konflikt mit Russland oder die Pläne zur wirtschaftlichen Wiederbelebung, die vom Wiederaufleben der Pandemie bedroht werden. Es sind alles Themen, die eine starke Führung in Berlin erfordern.
Aber Olaf Scholz wird gegenüber Großbritannien nicht zimperlich sein. Der Koalitionsvertrag enthält ausdrücklich eine Bestimmung zur Aufrechterhaltung des Nordirland-Protokolls. Boris Johnson könnte in Berlin auf eine härtere Haltung stoßen als Angela Merkels müde Nachsicht. Scholz kommt mit Erfahrung, einer liberalen Agenda und hohen Beliebtheitswerten ins Amt. Deutschland und seine Nachbarn können sich auf lebhafte vier Jahre einstellen.