Die Corona-Pandemie hat viele Punkte offengelegt, die bisher unter dem Radar geflogen sind. Zum Beispiel die Frage, wer im Falle einer Triage weiter behandelt werden muss und wer nicht. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe hat den Bundestag dazu verpflichtet, diese Frage „unverzüglich“ gesetzlich zu regeln.
Neun Menschen hatten geklagt – sie haben Behinderungen oder leiden an Vorerkrankungen und haben Angst, dass sie ausgesiebt und nicht mehr weiter behandelt werden, wenn es auf den Intensivstationen nicht mehr genug Betten und Beatmungsgeräte gibt. Die Karlsruher Richter gaben den Klägern Recht: Der Bundestag muss Menschen mit Behinderungen oder Vorerkrankungen im Falle einer Triage schützen.
Wie genau eine Triage abläuft, erklärt Lungenarzt Jens Mathews im Video.
BVerfG: Fehlende Triage-Regelung verfassungswidrig
Dass der Gesetzgeber bisher keine Triage-Regelung erlassen hat, sei verfassungswidrig, urteilten die Richterinnen und Richter in Karlsruhe. Sie verwiesen dabei unter anderem auf das Grundgesetz: Demnach dürfen Menschen mit Behinderungen nicht benachteiligt werden.
Wie die Regelung genau aussehen könnte, hat das Gericht aber nicht gesagt. Der Gesetzgeber – also der Bundestag – habe hier einen weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum.
Allerdings müsse bei der Gesetzgebung berücksichtigt werden, dass sich Ärzte bei Triage-Entscheidungen in einer Extremsituation befinden und schnell entscheiden müssen, wer behandelt wird und wer nicht.
Triage: Bisher nur Empfehlungen zum Vorgehen
Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) hat mit anderen Fachgesellschaften „klinisch-ethische Empfehlungen“ ausgearbeitet. Demnach müssen Mediziner bei der Triage-Entscheidung auch die Gebrechlichkeit eines Patienten und bestehende Vorerkrankungen beachten.
Davor haben die Klägerinnen und Kläger Angst. Als Menschen mit Behinderung und mit Vorerkrankungen befürchten sie, dass sie wegen ihrer statistisch schlechteren Überlebenschancen immer aussortiert werden.
Bundesverfassungsgericht nimmt Angst der Kläger ernst
Das Bundesverfassungsgericht sieht das wie die Kläger: Es sei nicht ausgeschlossen, dass eine Behinderung pauschal mit schlechten Aussichten auf eine Genesung verbunden werde, urteilten die Richter.
Der Gesetzgeber habe mehrere Möglichkeiten eine Behinderung zu berücksichtigen, wenn es um die Zuteilung von knappen Ressourcen zum Beispiel während einer Pandemie geht. Als Beispiel nannten die Richter ein Mehraugen-Prinzip bei Auswahlentscheidungen – oder Regelungen zur Unterstützung vor Ort. „Der Gesetzgeber hat zu entscheiden, welche Maßnahmen zweckdienlich sind“, hieß es.
Klage in Karlsruhe läuft schon seit Mitte 2020
Die Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe läuft schon seit Mitte 2020. Die Kläger hatten erst einen Eilantrag eingereicht – den hat das Bundesverfassungsgericht aber abgelehnt. Das Verfahren werfe schwierige Fragen auf, die nicht auf die Schnelle beantwortet werden könnten, hieß es zur Begründung.