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Nils Dampz
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Svenja Maria Hirt
Svenja Maria Hirt (Foto: SWR3)

Neun junge Menschen mussten vor einem Jahr sterben. Ein rassistischer Attentäter hat sie in wenigen Minuten erschossen. Wir wollen an die Opfer erinnern.

19. Februar 2020. Bei dem rassistischen Anschlag in Hanau wird Said Etris Hashemi schwer verletzt und verliert seinen Bruder. Auch der Sohn von Armin Kurtović wird getötet. SWR3 hat mit beiden gesprochen. Etris erzählt uns, wie er diese Nacht erlebt hat. Die Familie von Armin Kurtović hat auch ein Jahr danach immer noch viele Fragen.

Said Etris Hashemi (Foto: SWR3)
Said Etris Hashemi

Said Etris Hashemi – überlebte schwerverletzt, verlor seinen Bruder

– ein Beitrag von SWR3-Reporter Nils Dampz

Said Etris Hashemi hat bei diesem Anschlag seinen kleinen Bruder verloren und selbst schwerverletzt überlebt.

Ich habe da eigentlich auf den Tod gewartet. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich sterben werde.

Said Etris Hashemi ist 23. Sein jüngerer Bruder Said Nesar Hashemi lässt sich am Nachmittag ein Tattoo stechen. „Das war 63454 die Postleitzahl von Hanau-Kesselstadt. Kesselstadt ist der Ort, wo ich aufgewachsen bin, das ist meine Heimat.“

Die Abendplanung des 19. Februars 2020: Fußball schauen

Am Abend gehen die Brüder mit Freunden in die Arena Bar in ihrem Viertel Fußballschauen. 21:55 Uhr – zweieinhalb Kilometer weiter betritt der Täter die Shisha-Bar „La Votre“ in der Innenstadt. Er ist 43, Deutscher, auch aus Hanau. Sein Ziel: Menschen töten, die er für Ausländer hält. Er erschießt Kaloyan Velkov, der in der Bar arbeitet. Vor dem „La Votre“ tötet er Fatih Saraçoğlu. In einer zweiten Shisha-Bar trifft der Sedat Gürbüz tödlich.

„In seinen Augen hat man wirklich diesen Hass gesehen“, die 24-jährige Arjin Bicer muss das mit ansehen. „Das war ein überzeugter, hasserfüllter Mann.“ Er fährt weiter Richtung „Arena Bar“ in Hanau-Kesselstadt. Etris quatscht gerade mit seinen Kumpels. „Und dann hat man schon die ersten Schüsse von draußen gehört.“ Auf dem Parkplatz vor der Bar ermordet der Täter Vili Viorel Păun, 22 Jahre alt. Etris will schauen, was da los ist.

Der verschlossene Notausgang verhindert die Flucht

„Als ich auf dem Weg Richtung Ausgang war, ist er schon rein gekommen und hat dann geschossen. Und in dem Moment sind wir dann alle nach hinten gerannt.“ Doch der Notausgang der „Arena Bar“ ist verschlossen.

Der Täter erschießt oder verletzt mehrere Menschen. Auch Etris wird dreimal getroffen. Er liegt jetzt hinter der Theke und sagt sich: Jetzt hier liegen zu bleiben und auf den Tod zu warten, bringt auch niemandem was.“ Er holt sein Handy raus und wählt zweimal die 110. „Da ist erstmal keiner rangegangen und ein drittes Mal wollte ich es nicht versuchen, da hab ich dann 112 gewählt. Und da ist dann jemand daran gegangen.

In dieser Nacht schicken Ärzte Etris noch ins Koma, zwei Tage später wachte er wieder auf. Sein kleiner Bruder und acht weitere Menschen schaffen das nicht.

Die Opfer von Hanau:

Gökhan Gültekin, 37
Sedat Gürbüz, 30
Said Nesar Hashemi, 21
Mercedes Kierpacz, 35
Hamza Kurtović, 22
Vili Viorel Păun, 23
Fatih Saraçoğlu, 34
Ferhat Unvar, 22
Kaloyan Velkov, 33
Gabriele Rathjen, 72

Armin Kurtović (Foto: SWR3)
Armin Kurtović

Armin Kurtovic – Vater eines Opfers

– ein Beitrag von SWR3-Reporter Jakob Reifenberger

Ein Jahr nach dem Attentat in Hanau haben die Familien der Ermordeten noch immer viele Fragen:

Die quälendste Frage ist: Wie konnte es so weit kommen? Wo leben wir hier? Wieso müssen wir rumschreien, dass die endlich ihren Job machen? Was ist los? Das frag ich mich.

Armin Kurtović ist der Vater von Hamza, der in einer Bar in Hanau erschossen wurde. Immer und immer wieder hat Armin Kurtović diese Fragen gestellt, auch im Gespräch mit SWR3. Bei Familie Kurtović spürte man zuhause eine Mischung aus: Wut auf Ermittlungsbehörden – und Angst um die drei Geschwister von Hamza, die noch leben. Zwei von ihnen wohnen noch daheim, und wenn sie mal unterwegs sind, braucht's nur einen kleinen Trigger, und Vater Armin wird fast verrückt.

Das ist im letzten Jahr, glaube ich, zwei- oder dreimal passiert. Sie waren draußen, und da hab ich wieder den Hubschrauber in der Luft gesehen. Da bekommen Sie Panikattacken. Ich nehm das Telefon, ich ruf die an, bis die sich melden. Oder ich ruf die Freunde von denen an.

Seit einem Jahr kann er nicht mehr richtig schlafen. „Vier Stunden, fünf Stunden … und dann gibt’s diese Unterbrechungen. Es rattert im Kopf, man bekommt es einfach nicht raus.“

Er raucht dann oft. „Ich hab früher zehn, fünfzehn Zigaretten geraucht, jetzt bin ich bei zwei Schachteln. Früher hab ich auf dem Balkon geraucht, aber ich meide den Blick.“ Denn vom Balkon aus sieht er das Haus des Täters. „Eins, zwei, drei. Sehen Sie die Häuser so? Und neben dem dritten, das helle, das ist das Täterhaus.“

Das Haus des Hanau-Attentäters in Sichtweite

Der Vater des Mörders wohnt dort noch. Und fordert per Anzeige die Waffen seines Sohnes zurück.

Er [der Vater des Mörders] ist fest davon überzeugt, dass sein Sohn nichts Falsches gemacht hat. Eine tickende Zeitbombe.

Gewarnt vor dem Mann wurden sie nicht. Im Gegenteil. Die Polizei habe angerufen und gesagt: „Der Vater des Täters ist zurück, wir sollen keine Rache üben und keine Straftaten begehen.“

Gefährderansprachen für die Familien der Toten.

„Meine Tochter hat den Anwalt angerufen, der ist ausgerastet, hat sich drum gekümmert, dann haben die sich entschuldigt. Ist es nur die Unfähigkeit oder ist es wirklich Rassismus? Ich weiß es nicht.“

Geboren in Deutschland – Deutscher zweiter Klasse?

Weiteres Beispiel: In der Tatnacht bekommt die deutsche Familie Kurtović – Armin ist vor 46 Jahren in Schweinfurt geboren – einen Migrationsbeauftragten an die Hand.

Dann frage ich mich: Wie lange bleibt man Migrant? Was bin ich für ein Deutscher, wenn man mir einen Dolmetscher schickt? Bin ich Deutscher zweiter Klasse oder was bin ich? Im Grundgesetz gibt es keine Menschen zweiter Klasse.

Flucht aus Hanau ist für Familie Kurtović keine Lösung

Armin hatte sogar überlegt: Hamza exhumieren und mit der Familie raus aus Hanau, nach Bosnien. Sie haben sich aber gemeinsam dagegen entschieden.

Wir bleiben und wir kämpfen. Dass Hanau die Endstation ist. Dass sich so etwas nie wieder wiederholt. Dass kein Vater das erfahren muss, was ich erfahren musste.

1 Jahr Hanau – was ist passiert?

Am Abend des 19. Februars 2020 um kurz vor 22 Uhr fielen in der Nähe des ersten Tatorts am Hanauer Heumarkt die ersten Schüsse. Anschließend begab sich der Täter zu einer Shishabar, wo er vier Schüsse durch die Tür abgab. Danach fuhr er in den Stadtteil Kesselstadt, wo er das Feuer im Vorraum eines Kiosks eröffnete. Vom Vorraum aus schoss der Mann zudem in die „Arena Bar“.

Insgesamt neun Menschen starben, sechs weitere wurden verletzt. Um 22.10 Uhr floh der Attentäter in seine Wohnung, dort wurde sein Auto eine Stunde später von der Polizei entdeckt. Der Zugriff durch ein Sondereinsatzkommando erfolgte gegen 3 Uhr morgens. Der Täter tötete zuvor seine Mutter und sich selbst.

Ermittlungen zu Hanau noch nicht abgeschlossen

Bereits wenige Stunden später zog die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen wegen eines rechtsextremistischen Motivs an sich. Die Polizei fand in der Wohnung des Täters unter anderem ein Manifest mit rechtsextremen Ansichten und Verschwörungstheorien. Nach Einschätzung des Generalbundesanwalts Peter Frank handelte der Täter allein. Bis heute sind die Ermittlungen nicht abgeschlossen.

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