Unwürdig - der Fall Christian Wulff / Folge 5: Raubtierfütterung
Christian Wulff, Archivaufnahme ZDF Willkommen 2012 Silvesterparty: „Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins, null – Willkommen 2012! Willkommen!”
Das neue Jahr 2012 ist da – begrüßt am Brandenburger Tor mit Wind of Change von der Hannoveraner Band Scorpions. Wären wir etwas weniger ernsthaft, würden wir fragen: War das wohl ein Omen? Gelingt Christian Wulff noch die Wende? Aber wir bleiben natürlich ernsthaft. Der Jahreswechsel fällt hier praktischerweise auf ein Wochenende. Man kann feiern ohne schlechtes Gewissen. Für Christian Wulff gilt das wohl nur teilweise. Zu Feiern gibt es wenig. Und am ersten Montag des neuen Jahres holt ihn einer seiner größten Fehler wieder ein.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlicht zum ersten Mal Teile der Nachricht, die Wulff ja schon drei Wochen vorher auf die Mailbox von Kai Diekmann gesprochen hat. Wir haben schon gesehen: Es ist interessanterweise nicht direkt die BILD-Zeitung, die diese hochbrisante Nachricht auf der Mailbox des Chefredakteurs öffentlich macht. Auch andere Medien haben immer wieder kleine Details, über die sie berichten können. Wie aktiv war die Bild-Chefredaktion um Kai Diekmann da wirklich?
Wolfgang Storz: „Er hat sozusagen häppchenweise an andere Medien immer wieder Teile der Inhalte weitergegeben.”
Wolfgang Storz ist das noch einmal. Er hat die Berichterstattung der Bild-Zeitung im Fall Wulff genau untersucht und glaubt, eine Strategie hinter den Veröffentlichungen zu erkennen.
Wolfgang Storz: „Das war so eine Art Raubtierfütterung für die anderen Medien. Die haben immer wieder darüber berichtet. Und wer stand gut da? Im Zentrum? BILD. Weil BILD ist das Opfer und dem muss man jetzt helfen.”
So wie Wolfgang Storz das formuliert, klingt es nach Absicht. Wir haben ja schon einmal ausführlich in Folge 2 darüber gesprochen. Der damalige Bild-Chef Kai Diekmann bestreitet da, absichtlich Teile der Mailbox-Abschrift an Kollegen von anderen Medien geschickt zu haben.
Das ist an dieser Stelle aber schon gar nicht mehr so wichtig. Wichtig ist nur: Die Geschichte rund um die Mailbox-Nachricht ist in der Welt. Wulff wird immer mehr zum Gejagten. Verschiedene Medien und vor allem die Bild treiben Wulff vor sich her. Es ist ein Kampf um Deutungshoheit und Macht. Wer droht wem? Und wurde überhaupt gedroht?
Kai Diekmann: „Also das gab ja nun einen Dissens. War das eine Drohung? War das keine Drohung? Was hat er gesagt? Was hat er nicht gesagt?”
Bild-Chef Diekmann gegen Bundespräsident Wulff. Das ist das Duell.
Kai Diekmann: „Deswegen hab‘ ich ihn seinerzeit auch angeschrieben und ihm vorgeschlagen, dass wir den Text gemeinsam veröffentlichen. Damit sich die Öffentlichkeit ein Bild davon machen kann, was der Bundespräsident nun tatsächlich auf dieser Mailbox gesagt hat und da hat er mir dann auch schriftlich geantwortet. Und gesagt, dass er den Text nicht veröffentlicht sehen möchte.”
Christian Wulff: „Ich habe dafür meine Zustimmung nie erteilt, weil ich das Amt des Bundespräsidenten als beschädigt sehe, wenn quasi irgendwo ein Bild eingeblendet wird und ein Ton unterlegt, wird aus einem privaten, fern-mündlichen, dem Fernmeldegesetz unterliegenden Schutz, durchbrochen wird. Und deswegen sage ich, ich gebe da meine Zustimmung nicht weiter, aus so etwas gar nicht verwertbarem, verbreitbarem weiteren Nutzen und weiteres Kapital zu ziehen.”
Häppchenweise wird die Nachricht ohnehin schriftlich veröffentlicht. Mit dem Ergebnis: Die Stimmung kippt. Die Promi-Zeitschrift „Bunte“ fragt:
[Anfang eingelesene „Bunte“-Schlagzeile]
"Ist Christian Wulff womöglich ein ganz anderer als der Mann mit dem Schwiegersohn-Charme?"
[Ende eingelesene „Bunte“-Schlagzeile]
Der Spiegel spricht von der „dunklen Seite des netten Herrn Wulff“. Und auch in der Bevölkerung entwickelt sich die Stimmung zunehmend gegen den Bundespräsidenten. Die ARD veröffentlicht zu dieser Zeit nahezu täglich neue Umfragen – normalerweise passiert das nur alle paar Wochen. Am 4. Januar präsentiert der Wahlexperte der ARD, Jörg Schönenborn, in den Tagesthemen dieses Ergebnis:
Jörg Schonenborn, Archivaufnahme 04.01.2012: „Wir fangen wieder im Dezember an, damals waren es nämlich 70% die klar gesagt haben, nein Wulff soll nicht zurücktreten, er soll bleiben. Und heute erstmals eine Mehrheit von 50%, die sich für den Rücktritt von Wulff ausspricht. 47% dagegen.”
Es wird also zunehmend enger. Das stellt auch Christian Wulff selbst fest.
Christian Wulff: „Ich merkte dann Anfang Januar, dass das Thema wieder neu, von anderer Warte aufgezogen wurde, mit dem Dreh, ich als Bundespräsident würde die Pressefreiheit in unserem Land nicht zu 100 % respektieren, akzeptieren, verinnerlicht haben und hätte irgendwie den Anschein erweckt, auf Presse einflussnehmen zu wollen durch die damalige Mailbox-Nachricht. Da habe ich gesagt, jetzt muss ich mich nochmal stellen. Und habe dann morgens gesagt in meinem Umfeld, ich würde gerne heute Abend den Fernsehanstalten des öffentlich-rechtlichen Bereichs Rede und Antwort stehen. Ich bin dann abends ins ARD-Hauptstadtstudio gefahren und habe mich dem Gespräch gestellt, um damit die Chance zu nutzen, unmittelbar an die Bevölkerung mich zu wenden.”
Wulff gibt also ein Fernsehinterview, gleichzeitig für ARD und ZDF zur besten Sendezeit. Ein verzweifelter Rettungsversuch. Interviewt wird er von der ZDF-Moderatorin Bettina Schausten und Ulrich Deppendorf für die ARD.
Ulrich Deppendorf: „Ich glaube in dem Interview fand ich ihn schon glaubwürdig, weil er einfach seine Fehler auch zugegeben hatte. Sein Fehler war dann in dem Interview, dass er ja so ein bisschen zu viel Mitleid erregen wollte mit seiner Situation. Vielleicht weil er auch zu viel wollte. Vielleicht war er auch zu verkrampft. Vielleicht weil auch seine Anwälte in ihren Ratschlägen dann noch eingegriffen haben. Er war ja eben dann auf der Tour, ‚ja man darf sich doch wohl noch mit Freunden treffen. Und ich habe einen Fehler gemacht, ja ich hätte damals im Landtag den richtigen Kreditgeber nennen sollen, aber das waren schließlich Freunde von mir. Und der Anruf war ein Fehler, den bereue ich auch, aber Übernachtungen bei Freunden, die Chefs von großen Konzernen sind, das kann man doch machen.‘ Und dann gab es ja die berühmte Frage von Frau Schausten, ob sie auch Geld zahlen würde, wenn sie irgendwo übernachten würde bei Freunden…”
[Anfang: Ausschnitt Interview Wulff mit Bettina Schausten/Ulrich Deppendorf, 04.01.2012]
Christian Wulff: „Wenn alle Politikerinnen und Politiker in Deutschland ab sofort nicht mehr bei Freunden übernachten dürfen, sondern wenn Sie bei den Freunden im Gästezimmer übernachten nach einer Rechnung verlangen müssen, dann verändert sich die Republik zum Negativen, davon bin ich fest überzeugt. Und deswegen stehe ich zu diesen sechs Urlauben bei Freunden auf Norderney oder 5, 6 Tage dort in Italien oder 7 Tage, bei Freunden mit den Freunden zusammen zu kochen zu frühstücken, im Gästezimmer zu schlafen. Da erhebe ich auch keine Rechnung, wenn mich die Freunde hier in Berlin besuchen.“
Bettina Schausten: „Aber da hätten Sie natürlich auch sagen können, ich geb‘ euch mal pro Nacht 150 Euro so. Was spricht dagegen?“
Christian Wulff: „Machen Sie das bei Ihren Freunden so?“
Bettina Schausten: „Ja.“
[Ende: Ausschnitt Interview Wulff mit Bettina Schausten/Ulrich Deppendorf, 04.01.2012]
Eine Szene, über die sich viele lustig machen. Bettina Schausten wird zum Meme. Überall tauchen lustige Bilder auf. Millionen spotten in Social-Media-Gruppen lustig über die Frau, die ihren Freunden 150 Euro pro Übernachtung abnimmt.
Ulrich Deppendorf: „Dann wollte er sich da immer so rausmogeln. Und da merkte man schon, das wird nicht so gelingen heute hier, was er eigentlich vorhatte. Er hat dann sogar noch seine eigene Frau erwähnt, die Berichterstattung über die Frau Wulff war ja damals auch nicht besonders freundlich.“
Was Ulrich Deppendorf meint, ist ein einziger Satz, mit dem Wulff auf die Situation seiner Frau Bettina eingeht.
Christian Wulff, Archivaufnahme Interview 04.01.2021 mit Betina Schausten/Ulrich Deppendorf: „Im Internet, wenn Sie da sehen, was da über meine Frau verbreitet wird an Fantasien…“
Es ist nur eine Andeutung. Aber eine Andeutung vor Millionenpublikum, elfeinhalb Millionen Menschen schauen zu. Aber diese Andeutung hat es in sich. Es geht um ein übles Gerücht – nämlich: dass Bettina Wulff als Prostituierte gearbeitet haben soll. Seit Jahren wird die Falschbehauptung immer wieder befeuert. Es ist unklar, woher das Gerücht kommt. Nie wird irgendein Beweis dafür vorgelegt. Hans Leyendecker, früher einer der wichtigsten Investigativjournalisten Deutschlands, hat zu den Gerüchten recherchiert:
Hans Leyendecker: „Das war so unglaublich, das war so viel Rufmord.“
Und doch wird das Gerücht weiterverbreitet, unter Journalistinnen und Journalisten, unter Politikerinnen und Politikern. Ein Tiefpunkt.
Christian Wulff: „Das gehört zu den ganz dunklen Kapiteln. Wo dann ein Journalist in anderen Journalisten fragte, ob denn was an dem, was da im Internet ständig irgendetwas dran wäre und ich gezwungen war zu sagen, dass da überhaupt nichts dran ist und dass das zu den bösartigsten, schmutzigsten und unfairsten Dingen gehörte, dies in der deutschen Politik gegeben hat.“
Es ist schwierig, sich gegen dieses Gerücht zur Wehr zu setzen. Wenn man es thematisiert, macht man es nur noch größer.
Christian Wulff: „Wenn sie von jemandem hören, es sei ein schwarzer Schwan über die Straße gelaufen. Dann denken Sie da ist seiner gelaufen, und wenn jemand sagt, da ist kein schwarzer Schwan gelaufen, dann ist da sicher auch keiner gelaufen. Aber sie haben immer den schwarzen Schwan vor Augen.“
Wir erwähnen diese Geschichte, um zu zeigen, wie aufgeheizt die mediale Stimmung damals war, was Christian Wulff alles unterstellt wurde. Und was auch alles von der Öffentlichkeit geglaubt wurde. Und – davon geht jedenfalls Gernot Lehr, Christian Wulffs damaliger Anwalt aus – was für dramatische Konsequenzen die Gerüchte hatten.
Gernot Lehr: „Und das ist ein Aspekt der wirklich zentral war, weil man Christian Wulff eigentlich nichts glaubte. Das ist ganz erstaunlich. In Journalistenkreisen, war eine Stimmung, die ich hier noch nie so erlebt habe, die deutlich machte, dass man alles eigentlich in Zweifel zog. Und es gab nur wenige Journalisten, die bereit waren, das zunächst einmal mit einem gewissen, mit einer gewissen positiven Grundhaltung das entgegenzunehmen.”
Der Schaden, der für die Wulffs entstanden ist, ist jedenfalls kaum wieder gut zu machen.
Christian Wulff: „Sie haben dann keine Alternative als an das Gute zu glauben, dass sich am Ende alles so auflösen wird, das nichts hängen bleibt.”
Im Nachhinein könnte man diese Andeutung wohl als eine Art Hilferuf von Christian Wulff deuten. Aber: das Gerücht bleibt in den folgenden Wochen Thema. Immer unterschwellig. Nie richtig da, aber auch nie wirklich weg.
Machen wir weiter mit dem Fernsehinterview, das für Wulff so wichtig war. Das ein Befreiungsschlag sein sollte. Denn die Gerüchte waren ja nur ein kleiner Teil in dieser Sendung, in der Wulff von der ZDF-Frau Bettina Schausten und dem ARD-Journalisten Ulrich Deppendorf interviewt wurde.
Ulrich Deppendorf: „Und dann hat er noch dieses Angebot gemacht, dass am nächsten Tag seine Anwälte alle Fragen, die bisher gekommen würden, beantworten würden und das würde veröffentlicht. Und da hat er, glaube ich, auch noch seine Anwälte überrascht, denn die waren noch gar nicht in der Lage das so schnell zu machen.”
Gernot Lehr: „Man muss das nicht so verstehen, aber man konnte das so verstehen.”
Gernot Lehr ist das nochmal. Wie wir ja schon gelernt haben, ist er der Anwalt, den Wulff extra angeheuert hat, damit er die Situation beruhigt. Die Mitarbeiter im Bundespräsidialamt sehen sich nämlich gar nicht als zuständig. Sie finden: Das ist eigentlich Privatsache – und es ist außerdem passiert, bevor er Bundespräsident wurde.
Gernot Lehr: „Als ich dies verfolgte, habe ich auch den Anwesenden gesagt, naja dann haben wir jetzt aber eine Menge zu tun. Man kann das nicht so ohne weiteres tun, man muss ja, wenn man hier Fragen hat muss man erstmal die Zustimmung holen bei den Journalisten, die die gestellt haben. Wir bekamen übrigens von vielen Redaktionen ein Verbot, sodass also dann ein ganzes Team hier bei uns tagelang damit befasst war, diese Fragen so darzustellen, so wiederzugeben, so dann in als vorzubereiten, wie sie denn dann auch von den jeweiligen Verlagen und Redaktionen akzeptiert wurden.”
Das Interview ist als Befreiungsschlag gedacht. Fast 12 Millionen Menschen schauen zu. Eine Quote, die sonst vielleicht Spiele der Fußball-Nationalmannschaft erreichen. Aber: Wulff kann viele Oppositionspolitiker und Journalisten mit dem Interview nicht zufrieden stellen.
[Anfang: Collage, Stimmen aus der Opposition kritisieren Wulff]
„In dem Interview wurde deutlich, dass der Bundespräsident ein gestörtes Verhältnis hat zur Presse, zur Wahrheit und zum Geld.”
„Der Präsident hat seine Glaubwürdigkeit verloren und er wird zu einer immer schwereren Belastung für die Bundeskanzlerin, die ihn als Wunsch-Präsidenten für dieses Amt vorgeschlagen hatte.”
„Ich hätte mir mehr Rückgrat und vor allem eine offensive Entschuldigung von ihm erwartet.”
„Es gibt heute Zweifel, ob er den Anforderungen des Amtes gewachsen ist.”
„Ich glaube, mit dem Interview hat er sich noch tiefer reingeritten und verstrickt.”
„Und das Amt ist beschädigt, durch sein Verhalten, durch seine unbesonnene Art, durch mangelhaftes Amts-Verständnis.”
[Ende: Collage, Stimmen aus der Opposition kritisieren Wulff]
Interessant ist: Die Stimmung in Medien und Politik scheint ab diesem Zeitpunkt abzuweichen von der Stimmung in der Bevölkerung. Das zeigt eine weitere Umfrage für die ARD.
Jörg Schönenborn, Archivaufnahme 2012: „Die Mehrheitsstimmung heute ist, dass er eine zweite Chance verdient hat, dass wer öffentlich um Verzeihung bittet, nochmal einen Versuch starten darf. Gestern gab es ja auch eine knappe Mehrheit, die für den Rücktritt von Wulff votierte. Die Zahlen von heute: 41% sind der Ansicht, Wulff solle zurücktreten. Minus neun gegenüber gestern. Die Mehrheit, 56%, findet, Wulff solle im Amt bleiben. Mich erinnert die Stimmung übrigens sehr an Thilo Sarrazin. Da gab es auch eine Mehrheit, die mit ihm inhaltlich nicht übereinstimmte, aber die das Gefühl hatte, der wird gejagt von den Medien, man geht nicht fair mit dem um. Das löste damals einen Solidarisierungs-Effekt aus. Sowas ähnliches gibt es jetzt für Christian Wulff auch.”
[Anfang: eingesprochenes Lexikon, Eintrag: „Thilo Sarrazin“, Stimme: Uwe Lueb]
Thilo Sarrazin ist ein Politiker, der von 1973 bis 2020 Mitglied der SPD war. Die Partei hat ihn nach jahrelangem Streit und mehreren Skandalen ausgeschlossen. Zu den Skandalen gehörten Tipps, wie Hartz IV-Empfänger mit weniger als vier Euro pro Tag auskommen könnten und islamkritische Bücher.
[Ende: eingesprochenes Lexikon, Eintrag: „Thilo Sarrazin“]
Nach dem Interview wird die Stimmung in der Bevölkerung also wieder etwas besser. Für das Schloss Bellevue kann man das allerdings nicht behaupten. Die Fragen und Vorwürfe werden absurder – übrigens auch schon vor dem Interview. Wulffs Anwalt Gernot Lehr und sein Team müssen sich damit rumschlagen.
Gernot Lehr: „Und es wurde jeder Lebensbereich abgefragt. Wenn beispielsweise Christan Wulff oder seine Frau eine Massage in einem Hotel gebucht hatten, was Journalisten herausgefunden hatten, wurde gefragt, ob er die denn auch gezahlt habe. Es wurde nach Strandkorb-Finanzierungen gefragt. Es gab ein kleines Hochzeitsfest, es wurde gefragt, wer das finanziert habe. Wir haben nachgewiesen, dass es natürlich von der Familie Wulff selbst finanziert wurde. Es wurde wirklich jede Reise überprüft. Teilweise sind aus den Fragen kurze Berichterstattungen entstanden und das führte immer wieder zu dem Eindruck, aha da gibt es den Verdacht und er kommt nur Salami-weise mit Informationen heraus.”
Reporter nutzen zwar nicht jede einzelne Information, die abgefragt wurde – aber sehr viele. Und vor allem ein Gegenstand wird zum Synonym dafür, wie absurd manche Berichte waren.
Ulrich Deppendorf: „Dieses Bobbycar.”
Erinnert sich Ulrich Deppendorf. Die Story ganz kurz zusammengefasst: Der Sohn der Wulffs soll ein Bobbycar zum Geburtstag bekommen haben – vom Chef eines Autohauses, in dem die Wulffs auch ein Auto gekauft haben.
Ulrich Deppendorf: „Es hieß auf einmal, ja der hat ein Bobbycar da stehen. Angeblich hat irgendeiner ihm das geschenkt. Ja, mein Gott. Das kann eigentlich kein Skandal sein für einen Bundespräsidenten. So. Auf einmal hieß es, die Brötchen kämen aus Hannover jeden Tag. Wenn ich mich recht erinnere stimmte das, ja, aber es war der Vorgänger, der die Brötchen schon aus Hannover bezog, weil die Brötchen-Belieferung wurde nach, ich sage mal, streng wirtschaftlichen Ausschreibungskriterien gemacht und da hatte wohl eine Großbäckerei aus Hannover das billigste Angebot gemacht.”
Das berühmte Bobbycar reiht sich ein in eine ganze Menge merkwürdiger Dinge, die sich seit geraumer Zeit in Zeitungen und Magazinen finden.
Christian Wulff: „Es war einfach eine subtile Form, wenn dann so in der FAZ geschrieben wurde, jetzt hat die Unterwelt Eingang gefunden ins Präsidialamt, wenn mir ein Kontakt zur Rocker-Szene in Hannover unterstellt wurde, wenn alle möglichen Verdächtigungen geäußert wurden, zwischen den Zeilen behauptet wurde, verbreitet wurde, Gerüchte auch schon vor meiner Wahl verbreitet wurden, ich würde keinen Unterhalt für meine Tochter zahlen und viele andere Dinge mehr wurden einfach erfunden, weil man mich nicht wollte und weil man mich dann weg haben wollte.”
Auf was Christian Wulff hier anspielt: Ein Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Einer konservativen Zeitung. 2010 wird Bettina Wulffs Tattoo auf dem Oberarm sichtbar. Ein Tribal. Richard Wagner fühlt sich inspiriert zu einem Artikel - über die Bedeutung von Tätowierungen in der Gesellschaft.
Titel des Artikels: Die perforierte Republik.
[Anfang: Auszüge aus Artikel „Die perforierte Republik“, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 04.07.2010]
„Früher hatten Gesellschaften eine Zone der Ausgeschlossenen, in der Verbrecher, Zuhälter, Nutten, Hafenarbeiter, Seeleute, Vagabunden ihr gegenbürgerliches Zuhause hatten; die Mehrheit kam mit dieser Zone meist nicht in Berührung. Dort erkannte man sich an den Tätowierungen.“
Und weiter.
„Nun zieht also erstmals ein Tattoo in das Schloss Bellevue ein und gehört damit zum informellen Repräsentationsinstrumentarium des höchsten Staatsamtes. Selbst wenn der Bundespräsident es ‚cool‘ findet, es bleibt ein Import aus der Unterwelt.“
[Ende: Auszüge aus Artikel „Die perforierte Republik“, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 04.07.2010]
Kilian: Also wir müssen das kurz mal einordnen, was wir gerade gehört haben. Eine der wichtigsten konservativen Tageszeitungen veröffentlicht einen Artikel, in dem der Autor herablassend und verächtlich über den neuen Bundespräsidenten und seine Frau spricht.
Christopher: Und zwar zu einem Zeitpunkt, als überhaupt noch nicht gar nicht klar war: Können die beiden das? Also ein gutes Bundespräsidentenpaar abgeben, Deutschland überall gut repräsentieren? Ist Wulff ein guter Bundespräsident oder nicht?
Kilian: Aber es ist natürlich ein Spin der da gesetzt wird: Eine Frau mit Tattoos, das ist äußerst schwierig. Es ist eine Art Vorverurteilung.
Wie sehr die öffentliche Diskussion Christian Wulff mitnimmt, weiß Michael Götschenberg. Er ist einer unserer Kollegen im ARD-Hauptstadtstudio. Und er war viele Jahre zuständig für die Berichterstattung über den Bundespräsidenten. Am Abend des 12. Februar 2012 trifft er sich mit Christian Wulff für ein Interview im Schloss Bellevue – es soll um eine bevorstehende Reise nach Italien gehen.
Michael Götschenberg: „Ich war in dem Moment erschüttert, weil man mit einem Mal sehen konnte, was die Wochen mit ihm gemacht haben. Er hat dramatisch abgenommen. Er war ein Schatten seiner selbst. Und er hatte, glaube ich, Vertrauen zu mir. Und es sprudelte aus ihm heraus. Diese Frustration und das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden. Dass er da seiner Seele Luft machte in dem Moment.“
Am Tag danach geht es dann auf die geplante Reise nach Italien. Sie soll ein Symbol sein, dass Deutschland Italien unterstützt in der Euro-Krise. Für Christian Wulff wurde die Reise ein Spießrutenlauf zwischen den Journalisten, die im selben Flugzeug saßen wie er.
Michael Götschenberg: „Ich war dabei in diesem Flugzeug. Da machte Wulff deutlich, dass er über seine Italienreise reden wollte und wurde dann wiederum sehr direkt konfrontiert von dem Stern-Reporter mit der Frage, ob er denn tatsächlich glaube, dass sich irgendjemand für seine Italienreise interessieren würde. Das führte dazu, dass alle beschämt zu Boden blickten, weil auch Wulff unsouverän reagierte. Er sagte dann den Satz, wenn ich mich recht entsinne: „Öffnen Sie Ihr Herz für Italien“. Auch das war natürlich eine Verlegenheitsantwort, aus der deutlich wurde, wie er mit dem Rücken an der Wand stand und wie viel Würde das Amt auch schon verloren hatte.“
Die Würde des Amtes – verloren. Die Stimmung unter Journalisten – aufgeheizt. Auch im Bundespräsidialamt schütteln viele nur noch mit dem Kopf. Und trotz allem ist Christian Wulff sich auch nach der Italien-Reise sicher, dass er nicht zurücktreten muss.
Christian Wulff: „Ich war sehr zuversichtlich, weil sich aus CDU, CSU, FDP, aber selbst aus SPD und Grünen eine ganz große Zurückhaltung und ein ganz großer Respekt vor der Arbeit und auch dem Amt des Bundespräsidenten erkennbar war. Und da war ich mir ganz sicher, das stehe ich durch. Und ich habe es ja durchgestanden, mit diesen schwierigen Wochen.”
Was dann allerdings passiert – damit hat Christian Wulff nicht gerechnet.