Die ganze Folge hören: das Agenten-Ehepaar und sein Doppelleben
Familie Anschlag aus Hessen: fast ganz normal
Das einzige Ungewöhnliche an Familie Anschlag ist augenscheinlich ihr Name. Davon abgesehen sind sie in ein kleines Dorf in Hessen gezogen. Es gibt eine Kegelbahn, eine Kirche, eine Kulturscheune – die auch genau eine Rezension bei Google hat.
Andreas und Heidrun sind aus Peru eingewandert, erzählen sie. Der Vater geht arbeiten, die Mutter bleibt für die Tochter zuhause; macht später ein Fernstudium. Die Tochter, Julia (Name von der Redaktion geändert), geht auf ein Gymnasium und bringt 1er-Klassenarbeiten nach Hause. Auch wenn sie alle keine großen Dorffest-Gänger sind: Im Dorf kennt man sich, grüßt sich.
Meine Eltern sind nicht meine Eltern
Ein Morgen ändert in diesem Dorf und für Julia alles: Es klingt wie ein Streit, dazu viele Schritte, schwere Stiefel. Das Wort „Polizei“ fällt. Julia steht auf und öffnet die Zimmertür. Ihr Blick fällt auf dunkle, schwer gepanzerte Gestalten – Beamte der Spezialeinheit GSG9 – in voller Montur. Die: mit Helmen und schutzsichereren Westen. Sie: im Nachthemd. Und komplett fassungslos.
Die Polizisten halten ihre Mutter fest, die, wie später erklärt wird, gerade live dabei erwischt wurde, Informationen nach Russland zu funken. Auch ihr Vater wurde in der Zwischenzeit festgenommen. Die eigenen Eltern sollen für Russland spionieren, und das schon seit mehreren Jahrzehnten. „Wie konnten sie das die ganze Zeit über vor mir verheimlichen? Und was weiß ich noch nicht über sie?“, muss sich Julia gedacht haben. Denn wie die Dorfbewohner wusste sie nichts von alledem.
Wer sind Heidrun und Andreas Anschlag?
Was war echt, was eine Lüge und was macht man mit all den Erlebnissen irgendwo dazwischen? Warum ist die Familie umgezogen – wegen der Arbeit des Vaters als Ingenieur, der viel reisen muss, oder wegen der Arbeit für Russland?
Wie viel der Spionage-Arbeit ließ sich mit dem Familienleben verbinden? Tote Briefkästen könnten beispielsweise auch bei einem Familienspaziergang unauffällig bestückt worden sein.
Julia wird erfahren, dass ihre Eltern Heidrun und Andreas nicht so heißen, wie sie immer dachte, sondern das nur ihre Tarnnamen waren. Sie wird erfahren, dass ihr Vater nicht zufällig immer auf Veranstaltungen war, bei denen es auch Vorträge rund um die Nato gab und dass er sensiblen Informationen dazu über Kontakte näher gekommen ist, als viele andere Menschen. Und dass ihre Mutter russische Spezialsoftware zum Übermitteln dieser Informationen routinierter bedienen kann als andere Menschen ein ganz normales E-Mail-Programm. Und all das ohne Julias Wissen.
Getan haben sie das zuerst für den KGB, den Geheimdienst der Sowjetunion – später für den russischen Auslandgeheimdienst Sluschba Wnie-jeschni Rasjedtki, den „SWR“ (und nein, damit ist nicht der Südwestrundfunk gemeint).
Was bleibt von der Familie?
Wer gehört überhaupt alles zu dieser „Familie“? Was ist die Muttersprache von Heidrun und Andreas? Liegen Julias Großeltern wirklich auf einem Friedhof in Lima? Ja, dort gibt es Grabsteine mit dem Nachnamen „Anschlag“. Aber sind diese Menschen überhaupt mit ihr verwandt? Und vielleicht am grundlegendsten: Wer sind diese Eltern eigentlich?
Der Morgen, an dem Spezialkräfte das Zuhause von Julia stürmen, bringt eine Flut an Fragen mit sich und mit jedem Detail, was bekannt wird, kommen neue Fragen dazu. Fragen in den Ermittlungen, von Julia und bei den Dorfbewohnern.
Fake News und staatliche Zensur Kampagnen zur Desinformation: Putins Krieg gegen die Wahrheit
Die russische Bevölkerung hat nur noch kremltreue Medien zur Wahl, regierungskritische Sender wurden abgeschaltet. Es ist ein Informationskrieg gegen die europäische Demokratie.
Spione in hessischem Dorf: „bei uns?“
Es hätten deine oder meine Nachbarn sein können. Das Ehepaar mit dem interessanten Akzent aus Peru, das aber klassische deutsche Kultur schätzt und inzwischen ein zurückgezogenes Leben auf dem Land lebt. Und was sollte es hier auch Interessantes für Russland geben? „Wir haben nichts zu verstecken!“, hört man da gefühlt schon aus der Dorfkneipe.
Spionage-Paar vor Gericht: Die Tarnung ist aufgeflogen
Im Januar 2013 beginnt der Prozess gegen die als Andreas und Heidrun Anschlag bekannten Agenten am Oberlandesgericht Stuttgart. Sabine Roggenbrod eröffnet den Prozess als Vorsitzende Richterin. Der Südwestrundfunk berichtet damals:
Konkret gehe es um militärische Informationen zur NATO-Raketenabwehr, zur Strategie des Nordatlantischen Bündnisses in Libyen und um Berichte über politische Tagungen, zum Beispiel zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft.
Das ganze Leben der Anschlags liegt in einer 137 Seiten langen Anklageschrift und mehr als 40 Ordnern Beweismaterial jetzt im Gerichtssaal. Das echte Leben, nicht die Tarnung, in der Julia aufgewachsen ist. Und diese Tarnung war nahezu perfekt – eine ganz normale Familie mit den üblichen Büchern im Regal und ganz normalen Bekannten.
Den gesamten Prozess über schweigen Heidrun und Andreas, deren bürgerliche Namen gar nicht ermittelt werden konnten. Ganz in der Spionage-Rolle – wohl teilweise aus Loyalität dem Land gegenüber, für das spioniert wurde. Das ist eine Art ungeschriebenes Gesetz bei aufgeflogenen Spionen. Wohl aber auch aus Furcht, denn dass mit Verrätern in Russland nicht zimperlich umgegangen wird, ist allseits bekannt.
Am 2. Juli 2013 wird Heidrun Anschlag zu fünfeinhalb Jahren und ihr Mann Andreas Anschlag zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt. Die Urteile sind vergleichsweise mild; bis zu zehn Jahre wären möglich gewesen. In der Urteilsbegründung des Oberlandesgerichts wird das erklärt: Es ginge auch darum, wie schwer die Strafe für die Verurteilten wiegt. Und bei den Anschlags geht man von einer tonnenschweren Last aus.
Die Anschlags sind enttarnt: So ging es danach weiter
Heidrun Anschlag wird schon etwas über ein Jahr nach dem Urteilsspruch vorzeitig entlassen – gegen die Zahlung einer halben Million Euro von Russland. Andreas Anschlag kann 2015 zurück nach Russland reisen.
Ihre Tochter Julia möchte sich nicht dazu äußern, wie es für sie danach weiterging. Deshalb, und auch um ihre Privatsphäre zu schützen, geben wir nur ein paar Anhaltspunkte: Sie lebt auch heute noch in Deutschland und arbeitet in einem Beruf, in dem sie viel mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat.
Wie sie die Lügen ihrer Eltern verarbeitet hat, und ob sie für sich eine Antwort darauf gefunden hat, ob vielleicht sogar alles nur Tarnung war, wissen wir nicht. Was wir aber wissen:
Auch wenn Heidrun Anschlag den ganzen Prozess über eisern geschwiegen hat, gab es einen Moment, in dem die perfekte Fassade bröckelte. Als die Geburtsurkunde der Tochter an die Wand des Sitzungssaals projeziert wird, ist Heidrun Anschlag den Tränen nahe.