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Kira Urschinger
Kira Urschinger (Foto: SWR3)

Wie die Nazis damals zu Zeiten der Weimarer Republik an die Macht gekommen sind und wie Rechtspopulisten sich heute in Deutschland stark machen – hat das wirklich gar nichts miteinander zu tun? Doch, sagen renommierte Wissenschaftler und zeigen eindrücklich die Parallelen zwischen damals und heute.

Europa hat gewählt. In Deutschland hat die AfD 3,9 Prozentpunkte gewonnen, erreichen 11 Prozent der Wählerstimmen. Insgesamt haben rechtspopulistische Parteien in Europa zugelegt. Beim Deutschlandfunk gibt es eine interaktive Karte, hier kannst du nachschauen, wie die Menschen in den einzelnen Länder in Europa gewählt haben.

Rechtsextremismus in Deutschland

Die Friedrich-Ebert-Stiftung stellte kürzlich bei einer Erhebung (durchgeführt von der Universität Bielefeld) fest, dass der Großteil der Bevölkerung in Deutschland eindeutig und offen rechtsextreme Einstellungen ablehne. Lediglich zwei bis drei Prozent der Befragten äußerten sich klar rechtsextrem. Besonders weit verbreitet aber sei die Zustimmung zum sogenannten Nationalchauvinismus:

  • Der Aussage „Das oberste Ziel der deutschen Politik sollte es sein, Deutschland die Macht und Geltung zu verschaffen, die ihm zusteht“, stimmten immerhin 17 Prozent der Befragten zu.
  • Knapp 8 Prozent der Deutschen seien der Ansicht, „Eigentlich sind die Deutschen anderen Völkern von Natur aus überlegen“.
  • Fast jeder Zehnte stimmt inzwischen der Aussage zu: „Es gibt wertvolles und unwertes Leben.“

Deutschland ist in Unruhe. Hass, Abschottung und Gewalt stehen Solidarität und zivilgesellschaftlichem Engagement gegenüber. Rechtsextreme Gruppen treten öffentlichkeitswirksam an der Seite „normaler“ Bürgerinnen und Bürger auf, rechtspopulistische Forderungen und Diskurse erhalten scheinbar immer mehr Raum in Politik und Debatte.

Weimar und heute: Die Rückkehr der völkischen Ideologie

Zugegeben, es gibt unzählbar viele Hitler-Dokumentationen. Für den ein oder anderen vermutlich zu viele, um das noch interessant zu finden. Diese Dokumentation aber ist ganz anders und wirklich wichtig: In der ARD-Sendung Die Story haben sich Wissenschaftler damit befasst, welche Parallelen es gibt zwischen der Phase der Machtergreifung Hitlers in der Weimarer Republik und den heutigen Entwicklungen durch ideologisch getriebene Gruppen in Deutschland. Die Dokumentation Weimar und heute: Die Rückkehr der völkischen Ideologie deckt erschreckende Ähnlichkeiten auf.

Es gibt in der äußeren Rechten in der Bundesrepublik heute eindeutig Wiederanknüpfungen an den völkischen Nationalismus.

Was hat Berlin heute mit Weimar von damals zu tun?

Die Experten:

  • Professor Andreas Wirsching, Historiker und Direktor des Instituts für Zeitgeschichte
  • Professor Samuel Salzborn, Antisemitismusforscher der TU Berlin
  • Matthias Quent, Rechtsextremismusforscher und Direktor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft
  • Professor Oliver Nachtwey, Sozialwissenschaftler der Universität Basel

Hier findest du die 8 wichtigsten Vergleiche – die Machtergreifung Hitlers gegenübergestellt mit den Entwicklungen, die wir heute in Deutschland sehen:

1. Die Annahme: Die Rechtsextremen kommen nicht an die Macht

DAMALS „1929 hätte man sich nicht vorstellen können, was 1933 passiert. Völlig ausgeschlossen“, so Professor Andreas Wirsching vom Institut für Zeitgeschichte über die Einstellung der Bevölkerung zu Zeiten der Goldenen Zwanziger.

HEUTE Was damals zur Machtergreifung Hitlers und der nationalsozialistischen Terror-Herrschaft in Deutschland geführt hat, darf nicht wieder passieren – das sagt sich so leicht und wurde auch schon vielfach gesagt. Die oft herunterspielende Antwort darauf ist aus wissenschaftlicher Sicht nicht besonders zielführend: „Es gibt diesen eingängigen Slogan, Berlin sei nicht Weimar. Ich glaube, das ist historisch betrachtet trivial, weil eine historische Konstellation sich nicht eins zu eins wiederholt. Aber es ist zugleich auch eine Beruhigungs- oder Beschwichtigungsformel, weil sie suggeriert, man müsse sich über bestimmte antidemokratische Entwicklungen nicht Gedanken machen. Weil man eben scheinbar diesen Vergleich nicht herstellen könne“, so Professor Samuel Salzborn, Antisemitismusforscher.

Für Wissenschaftler also ein vorgeschobenes Argument, Salzborn warnt davor, sich darauf auszuruhen: „Ich glaube, es gibt einige Punkte, die darauf hinweisen, dass eine Vergleichbarkeit notwendigerweise eingefordert werden muss.“ Sein Appell: „Wir sollten und müssten sehen, dass ein Angriff der Antidemokraten, wie er in der Weimarer Republik stattgefunden hat, auch jetzt wieder auf Hochtouren läuft.“

2. Das Selbstverständnis und Vokabular: „Wir sind das Volk“

DAMALS „Damals wurde gegen die Parteien in der Weimarer Republik gehetzt, weil man der Meinung war, das deutsche Volk braucht keine Parteien, sondern eine einzig wahre Volksvertretung – in Form eines Führers, in Form einer starken Partei“, erläutert Rechtsextremismusforscher Matthias Quent.

HEUTE Der Forscher sieht hier eine starke Parallele zur heutigen Zeit: „So wird das auch heute gesehen. Es gibt die Vorstellung bei populistischen und radikalen Rechten: Wir sind das wahre Volk. Wir repräsentieren das Volk. Und die anderen sind manipuliert, handeln gegen die Interessen des Volkes.“

Ein Zitat des Brandenburgischen Landesvorsitzenden der AfD, Andreas Kalbitz beim Kyffhäusertreffen im September 2017:

Die Blockparteien haben sich unseren Staat zur Beute gemacht. Und die Regierung unser Land und Volk zum Schlachtfeld ideologischer Experimente überall. Die AfD ist die letzte evolutionäre Chance für dieses Land. Danach kommt nur noch: Helm auf.

Kalbitz pflegte früher Kontakte zu neonazistischen Jugendorganisationen.

3. Rechte Proteste werden gerechtfertigt durch eine Bedrohungslage

DAMALS Joseph Goebbels, NSDAP, in einer Rede von 1932:

Das Vaterland ist in Gefahr, die Nation steht vor dem Abgrund. Das Volk verzweifelt. Wenn es uns nicht gelingt, die Dinge entscheidend zu wenden, dann müssen wir jede Hoffnung auf eine neue deutsche Zukunft begraben.

HEUTE Björn Höcke, Fraktionsvorsitzender der AfD Thüringen bei einer Veranstaltung in Mödlareuth, Juni 2018:

Der Verwesungsgeruch einer absterbenden Demokratie wabert durchs Land. In dieser Lage, liebe Freunde – und das sage ich als staatstreuer Bürger –, in dieser Lage ist nicht Ruhe, in dieser Lage ist Mut und Wut und Renitenz und ziviler Ungehorsam die erste Bürgerpflicht. Holen wir uns unser Land zurück.

Applaus in Mödladreuth, einem Dorf mit 40 Einwohnern, das zu einem Teil im Bundesland Bayern und zum anderen Teil im Bundesland Thüringen liegt.

„In den Augen der radikalen Rechten, und zwar in den 1920er-Jahren ebenso wie heute, ist die liberale Demokratie ein einziger Niedergang. Ein einziger Verfall, der zu Kriminalität, zu angeblicher Überfremdung und zu sonst was für Unglück führt“, erklärt Forscher Matthias Quent.

Ähnliche Argumentationsstrategien hat auch Franziska Schreiber im SWR3-Interview aufgeführt, sie war Mitglied und Pressesprecherin der Jungen Alternative in Sachsen und hat selbst zu ihrer aktiven Zeit Fakten gefälscht, Fake News verbreitet:

Da steckt die feste Überzeugung dahinter, dass sich Deutschland tatsächlich in einer gefährlichen Entwicklung befindet. Dass wir also zu viel islamischen Einfluss haben, dass wir zu viel arabischen Einfluss haben, dass die Globalisierung generell nichts Gutes ist. Dass es viel besser wäre, alles beim Alten zu belassen und sich abzuschotten gegen diese neue Entwicklung. Und diese Panik vor allem Neuen und vor der Zukunft, das führt dazu, dass sie alles für gerechtfertigt halten, was dazu geeignet ist, diese Entwicklung aufzuhalten.

4. Rechtspopulistische und Rechtsextreme setzen auf die Jugend

DAMALS In der Weimarer Republik erkannten Viele die Bedeutung von Jugendorganisationen. Vor allem die Kirchen, Berufsstände, Sportgruppen und Parteien erwarten viel von der Generation, die künftig den Staat lenken sollte. Nicht nur bei der Hitlerjugend galt das Führerprinzip. Die Jugendlichen empfanden die Demokratie der Weimarer Republik als unmodern. Das lag auch daran, dass der Staat der Alten die Kriegsschuld des ersten Weltkrieges zu verantworten hatte. Teil dieser Jugendbewegung war auch die Deutsche Burschenschaft. In einer ihrer Schriften hieß es schon 1924:

Das Volkstum soll das politische Handeln erschaffen. (...) Jeder Staatsbürger hat die Verpflichtung nationalen Handelns, d.h. er muss (...) sich in seinem Wirken nur durch den Gedanken bestimmen lassen, die Erhaltung und Förderung des völkischen Lebens zu sichern.

HEUTE „Damals wie heute dienen Burschenschaften als Kaderschmiede für rechtsradikale Parteien, für Thinktanks, für den rechten Apparat“, resümiert Rechtsextremismusforscher Quent. Die Traditionen, denen die Mitglieder der Burschenschaften nachkommen, sind oftmals noch dieselben wie früher – aber steckt heute wirklich noch derselbe ideologische Gedanke dahinter?

Philip Stein, Sprecher der Deutschen Burschenschaft in Halle: „Ich möchte einfach gerne, dass die Völker zumindest in ihrer relativen Homogenität mit ihren Traditionen und Ähnlichem so bestehen bleiben.“ Der Reporter fragt nach, wo da dann genau der Unterschied zur Rassenlehre sei. Die Antwort: „Die Rassenlehre baut ja auf völlig anderen Gesichtspunkten auf. Eine Volkszugehörigkeit ist ja nicht, weil jeder blond ist und jeder besonders schöne Zähne hat oder eine besondere Schädelform. Ein Volk setzt sich ja aus völlig verschiedenen Charakteren zusammen, die über Jahrhunderte organisch gewachsen sind.“

Noch einmal: „Ich frage nach der Rassenlehre, weil es ja um diese Angst vor Durchmischung geht“, so der Reporter. Der Sprecher der Burschenschaft schaut an die Decke, erläutert: „Naja, die Herkunft ist, wie ich ausgeführt habe, einer der zentralen Bestandteile neben der Sprache und neben dem Bekenntnis zu einer Nation. Und zu Herkunft zählen ja selbstverständlich auch einige Merkmale, die nichts mit Rassenlehre zu tun haben, sondern einfach mit menschlichen, ja, Ausdrucksformen, mit menschlichen Formen.“ Welche Formen denn genau, gibt es Beispiele? „Naja, schauen Sie sich doch mal um. Dass Sie jetzt ein Deutscher sind oder dass Sie ein Europäer sind, das kann ich relativ schnell erkennen. Selbstverständlich bewohnt ein Volk mit gewissen körperlichen Merkmalen, bildet ein Volk oder stellt einen Großteil des Volkes. Das ist ja eigentlich ein völlig normaler Fakt.“

Die identitäre Bewegung wirbt mit alten Werten, gibt sich aber in Werbevideos durchaus hip, jung und positiv – dort wirken Demonstrationen teilweise wie Musikfestivals. Auch mit spektakulären Aktionen wird die Jugend angesprochen: 2016 klettern junge Akteure auf das Brandenburger Tor in Berlin, bei einer Werbeaktion für einen Mittelmeereinsatz gegen Flüchtlinge hängen junge Leute ein großes Banner in den französischen Alpen in den Schnee. Es gibt Bars, in denen sich Gleichgesinnte treffen und Plattformen im Internet, auf denen man sich austauscht.

Insgesamt aber scheint der Großteil der Jugend im Moment wenig empfänglich zu sein für die Programme rechter Parteien, wie die Ergebnisse der Europawahl nahelegen:

So unterschiedlich wählten jüngere und ältere Wahlberechtigte #Europawahl2019 #Europawahl https://t.co/qsbN6GBMtR https://t.co/loy61D0h9j

Bei den noch jüngeren Menschen zwischen 14 und 17 Jahren zeigte eine YouGov-Jugendstudie:

Mit 71 Prozent der Jugendlichen ist eine große Mehrheit zufrieden mit der Demokratie als Staatsform und 68 Prozent sehen die Demokratie als beste Staatsform. Lediglich 4 Prozent erachten eine andere Staatsform als besser. Immerhin 16 Prozent erachten allerdings andere Staatsformen als vergleichbar gut wie die Demokratie.

5. Das Schüren der Angst vor Zuwanderung und dem Fremden

DAMALS Die Beschwörung der Einheit des Volkes wurde oft durch die Abstammung, die „Rasse“, erklärt. Es ging nicht um den Einzelnen, sondern um das Volk – „der reine Volkskörper“. „Die Grundidee ist dabei, dass es innerhalb dieses angeblich biologisch reinen Volkskörpers keine Widersprüche geben könne. Dass er, weil er biologisch rein ist, auch keine Pluralität kennt“, erklärt Wirsching. „Das bedeutet, dass Konflikte, Interessensgegensätze – alles das, was man in modernen Massengesellschaften natürlich kennt, was auch normal ist – nicht akzeptiert, sondern als im Grunde feindlich ablehnt.“

HEUTE „Dieses existenzielle, rassistische Denken ist Teil der rechtsradikalen Ideologie der vergangenen 200 Jahre und findet immer neue Ausdrucksformen, indem beispielsweise der Begriff Rasse heute ausgetauscht wird gegen Begriffe wie Kultur oder Identität“, erläutert Rechtsextremismusexperte Quent. Antisemitismusforscher Salzborn ergänzt: „Gesellschaft soll homogen werden, soll völkisch homogenisiert werden. Das, was die Bunderepublik ausmacht, soll sich verändern. Viele Menschen, die heute ganz selbstverständlich staatsrechtliche Deutsche sind, gelten im Verständnis des völkischen Nationalismus nicht als Deutsche. Genau hieran will man massive Veränderungen in der Gesellschaft durchsetzen.“

Viele der Wähler der AfD stellen das ganze System der Demokratie, die Lebensverhältnisse in Deutschland in Frage. Dies verdeutlicht eine Studie von Polis, der Gesellschaft für Sozial- und Marktforschung mbH, aus dem Jahr 2016:

  • Nur ein bis vier Prozent der Wähler der etablierten Parteien gaben an, gar nicht damit zufrieden zu sein, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert.
  • Unter den Wählern der Linken waren es 31 Prozent.
  • Unter denen der AfD 41 Prozent.
  • Insgesamt sind 81 Prozent der AfD-Wähler unzufrieden oder weniger zufrieden, bei den Linken sind es 61 Prozent.

6. Rechtspopulistische Ansichten werden von der Straße aus „legitim“

DAMALS Die Nazis in der Weimarer Republik sind auf der Straße groß geworden, als Partei waren sie anfangs kaum beachtet. Ihnen ging es darum, sich sichtbar und präsent und damit größer zu machen.

Der Nationalsozialismus ist keine Partei im alltäglichen Sinne dieses Wortes. Er ist eine Bewegung, die sich zum Ziele gesetzt hat, das ganze deutsche Volk in all seinen Klassen, Ständen, Berufen und Bekenntnissen zu umspannen.

HEUTE Im Vergleich hierzu ein Auszug aus einer Rede von Björn Höcke, Franktionsvorsitzender der AfD Thüringen, in Dresden im Januar 2017:

Um ihren historischen Auftrag nicht zu verraten, muss die AfD Bewegungspartei bleiben. Das heißt: Sie muss selbst immer wieder auf der Straße präsent sein und sie muss in engstem Kontakt mit den befreundeten Bürgerbewegungen stehen.

Die Sichtbarkeit auf der Straße sei ein essenzielles Element, ein wichtiger Bestandteil für radikale Strömungen, so Historiker Wirsching. „Um eben tatsächlich erkennbar deutlich zu machen: Hier sind wir und man kann uns folgen und wir sind in einer Front- und Kampfposition.“

Die AfD sei aber nicht der Ursprung. „Es gab auch vor Gründung der AfD ein bestimmtes Segment in der deutschen Gesellschaft, die deutlich konservativer – um nicht zu sagen: rechter, mitunter auch rassistischer gedacht hat als es von der Merkel-CDU repräsentiert wurde. Es gab nur keinen Akteur, der das offen und glaubwürdig und legitim ausgedrückt hat“, stellt Sozialwissenschaftler Professor Oliver Nachtwey fest. „Und mit der AfD ist nun ein Akteur entstanden, der diese Legitimität ausstrahlt. Der dazu führt, dass man rassistische Werte und Weltanschauung sich nicht mehr nur noch denken darf, sondern dass man sie sogar aussprechen darf.“

Die Flüchtlingsbewegungen haben offenbar dazu beigetragen:

Die große Migrationskrise seit 2015 ist natürlich für patriotisches, für rechtes Gedankengut, wie auch immer, eine Art Katalysator gewesen. Ich denke, das wird niemand bestreiten. Das heißt: Ja, tatsächlich ist eine Art kurze Zeit angebrochen, in der solche Meinungen an Konjunktur gewonnen haben. In der auch die Zone des Sagbaren sozusagen erweitert wurde. Man kann über Dinge sprechen, die vor einigen Jahren schwieriger waren.

7. Aus verbaler Hetze werden gewalttätige Übergriffe

DAMALS In der Weimarer Republik verbreiteten die Akteure zunächst verbale Hetze, dann kamen die Straßenschlachten. Das Ziel: Den Staat als machtlos darstellen. 1931 verübten Nazis am Kurfürstendamm erste antisemitische Übergriffe und Hetzjagden auf Juden.

HEUTE September 2018 in Chemnitz: Demonstranten stellen Rassismus offen zur Schau, Journalisten werden angegriffen, Ausländer gejagt – Hass schlägt um in Gewalt.

Hier findest du die Fakten zu den Übergriffen in Chemnitz

„Die Gewaltbereitschaft ist nicht nur abstrakt vorhanden, sondern die Gewalt wird ausgeübt und wir verlieren, glaube ich, ein bisschen aus dem Auge, dass wir ein militantes, terrorismusaffines Milieu in dieser Szene längst haben – das auf genau die Konstellation wartet, in dem die Möglichkeit da ist, die Gewalt auf den Straßen umzusetzen“, stellt Salzborn fest. Und das gilt auch für die Linken, wie beim G20-Gipfel vor zwei Jahren in Hamburg. Auch hier: Gewalt.

Doch die Wissenschaftler sehen Unterschiede: „Zum einen geht es der radikalen Linken nicht um die Abschaffung der Demokratie, sondern um die Abschaffung des Kapitalismus. Die radikale Rechte will die Demokratie, will die Menschenrechte abschaffen. Das äußert sich auch in unterschiedlichem Verhalten auf der Straße: Linke Gewalt richtet sich in aller Regen vor allem gegen Gegenstände oder eben gegen Repräsentanten des Staates. Während Rechte Jagd auf Minderheiten machen, auch gegen den Staat vorgehen, aber in der Regel auch direkt Menschen angreifen“, differenziert Quent.

8. Rechtsextreme Parteien profitieren von Arbeitslosigkeit

DAMALS Politische Systeme können sich schnell ändern: 1919, gerade hatten sich einige Demokratien in Europa gebildet, da begannen sie schon zu bröckeln. 20 Jahre später, 1939, hatten sich die meisten Staaten wieder zu autoritären Systemen oder Diktaturen zurückentwickelt.

Die Weimarer Republik blieb zunächst stabil, bis 1929 gab es für Rechtsextreme keine Möglichkeit, die Demokratie abzuschaffen. Die Wirtschaft war stark, die Inflation war überwunden und die Arbeitslosigkeit auf einem so geringen Niveau wie lange nicht. Das änderte sich schlagartig mit der Weltwirtschaftskrise im Oktober 1929. Bis dahin hatten auch die Nazis als Partei noch kaum eine Rolle gespielt. Als aber die Arbeitslosigkeit explodierte und die Armut sich ausbreitete, gewann die NSDAP ihre Wähler. Soziale Sicherung gab es kaum, Hunger und Obdachlosigkeit waren für viele Menschen bitterer Alltag.

In den Wahlen zwischen 1924 und 1933 legte die NSDAP deutlich zu, die anderen Parteien hatten aber nicht in gleichem Maße Wähler verloren. Stattdessen stieg die Wahlbeteiligung stark an – es wählten also nicht die die NSDAP, die vorher eine andere Partei gewählt hatten, sondern überwiegend die Nichtwähler.

In insgesamt gerade einmal 14 Jahren wurde die Weimarer Republik von einer friedlichen Demokratie zur brutalsten Diktatur.

HEUTE Nach dem Ende des Kalten Krieges spielten rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien in Europa noch so gut wie keine Rolle. In nur wenigen Ländern hatten sie bis zur Jahrtausendwende eine Größenordnung von über 10 Prozent. 2019 sind rechte Parteien fast in ganz Europa zur relevanten Größe geworden. In einigen Ländern sind sie mittlerweile auch an der Regierung beteiligt. In der Struktur der Wählerschaft insbesondere bei der AfD in Deutschland sieht Wirsching Parallelen zu dem plötzlichen Zuspruch zur NSDAP in der Weimarer Republik: „Die NSDAP war, wie man sie genannt hat, so eine Volkspartei, eine negative Volkspartei des Protests. Sie war die einzige Partei, die milieuübergreifend gewirkt hat innerhalb der Weimarer Republik. Und die AfD ist auch eine Mischung, zwischen, sagen wir mal, sozial etablierten Wählern aus der Mitte, die nach rechts driften und Neuwählern, Protestwählern, die ihrem Protest dadurch Ausdruck geben.“ Knapp ein Viertel der AfD-Wähler der Bundestagswahl 2017 waren vorher Nichtwähler.

„Das impliziert auch, dass nicht alle Wähler der NSDAP etwa 1932 überzeugte Rassisten und Antisemiten und Nationalsozialisten waren. Sondern es ist auch eine gewissen Proteststimmensammelpartei gewesen. Und die AfD hat auch solche Züge“, sagt Historiker Wirsching. Der Unterschied zu damals: Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist derzeit gering, die Wirtschaft scheint gesund. Dennoch driftet die Gesellschaft immer weiter auseinander: „Wir sind keine Gesellschaft, die ärmer wird, sondern wir sind eine Gesellschaft, die reicher wird. In der auch sogar alle reicher werden können. Aber in unserer Gesellschaft werden die oberen 60 Prozent kontinuierlich reicher, während die unteren 40 Prozent nicht reicher geworden sind in den letzten 15 Jahren. Und das ist das Problem. Trotz größerer Möglichkeiten haben wir eine größere Spaltung“, warnt Sozialwissenschaftler Nachtwey.

40 Prozent, das sind 32 Millionen Menschen in Deutschland, die nicht reicher oder sogar ärmer geworden sind. Eine Herausforderung für den gesellschaftlichen Frieden. Was würde bei einer neuen Weltwirtschaftskrise passieren – mit erneuter Inflation, Massenarbeitslosigkeit, Armut? Quent erklärt: „Die neue radikale Rechte verfolgt das Ziel, gesellschaftliche Spannungen so weit zu treiben und so weit zu steigen, bis es zu einer Eruption kommt – an deren Ende die Zerschlagung der liberalen Demokratie steht.“

Fazit: Parallelen zu Weimar = Wiederholung der Geschichte?

Sozialwissenschaftler Nachtwey fasst zusammen: „In der Tendenz sehen wir ganz, ganz langsam, was damals passiert ist: Gesellschaftliche Polarisierung, Rechtsextremismus, den Aufstieg einer antidemokratischen Partei, den Aufstieg von rechter Gewalt. Einen Staat und eine Regierung, die dieser Lage nicht mehr wirklich Herr zu werden scheint. All diese Elemente der Weimarer Republik sieht man durchaus, aber es heißt nicht, dass wir Weimar wiederholen. Sondern es heißt eher, dass wir im Bewusstsein von Weimar Weimar verhindern müssen.“

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