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AUTOR/IN
Sebastian Lehmann
ONLINEFASSUNG
Lea Kerpacs
Lea Kerpacs: Website-Redakteurin bei SWR3 (Foto: SWR3, Niko Neithardt)

„Ich hab mein neues Auto mit ihrer Vergesslichkeit finanziert“, meint der Mann vom Schlüsseldienst, als er meine Tür aufbrechen muss, weil ich mal wieder meinen Schlüssel vergessen habe. Wie vergesslich ich bin, beweise ich euch hier.

Habe ich Sie schonmal gerufen?“, frage ich. „Ich kann mich gar nicht an Sie erinnern.“ – „Das macht 800 Euro“, antwortet der Schlüsselmann.

Menschen, die sich an ihre Kindheit erinnern, sind mir suspekt, ich kann mich ja nicht einmal erinnern, was ich gestern gemacht habe. Gearbeitet? Kann ich mir nicht vorstellen. War ich zuhause? Habe ich meinen Schlüssel vergessen? Hä, Corona? Was war das nochmal? Ich bin schon siebenmal geimpft, weil ich immer vergessen habe, dass ich schon geimpft bin. Meinen Impfausweis habe ich natürlich auch immer vergessen.

Meine Kindheit ist ein schwarzes Loch. Freunde von mir erzählen überzeugend davon, wie der böse Nachbarsjunge sie damals vor 35 Jahren auf dem Spielplatz vom Klettergerüst gestoßen hat. War ich jemals auf einem Spielplatz? Hatte ich Freunde? Wer sind diese netten älteren Herrschaften in Freiburg, die mich immer anrufen?

Schon mit neun vergaß ich regelmäßig meinen Schulranzen. Erst im Klassenzimmer fiel mir auf, dass irgendetwas fehlte. Nämlich alles. Ich habe natürlich auch grundsätzlich meinen Sportbeutel vergessen. Manchmal habe ich sogar vergessen, dass Sport auf dem Stundenplan stand. Während meines Studiums habe ich drei Semester lang vergessen, dass ich noch ein Nebenfach studierte. Aber wer braucht schon Soziologie? Oder hab ich Psychologie studiert? Irgendwann entfiel sogar, dass ich überhaupt studierte.

Meistens vergesse ich aber eher kleine Dinge. Arzttermine, 1000 Euro im Geldautomat und natürlich Namen. Falls sich schon jemand gewundert hat, warum ich immer nur von „meiner Mutter“ und „meiner Freundin“ erzähle. Wenn ich mal Kinder kriege, nummeriere ich sie einfach durch. „Wir haben schon zwei Kinder“, ruft meine Freundin.

Warum ist mein Gehirn so unpraktisch eingerichtet? Englischvokabeln vergisst es just in dem Moment, wenn mich jemand auf englisch anspricht, aber jeder Namen der Fußball-Weltmeistermannschaft von 1990 ist fest eingespeichert. Damals war ich sieben Jahre alt.

Ich befürchte, mein Gehirn arbeitet gar nicht nach Prinzipien, sondern ich merke mir einfach zufällig irgendwas und der Rest verschwindet sofort wieder wie ein Hamster im Staubsaugerrohr. Ist mir das mal passiert? Zum Glück habe ich das vergessen.

Vergesslichkeit ist nicht immer schlimm. Es belastet vor allem meine Mitmenschen. Für mich sind alle Fremde: „Wir waren zusammen im Kindergarten und ich habe dich vom Klettergerüst gestoßen? Kann ich mich nicht dran erinnern.“ – Wer sind Sie? Mein Nachbar? Ach, das ist gar nicht meine Wohnung? Hatte ich ganz vergessen. Na, dann hätte der Schlüsseldienst gar nicht die Tür aufbrechen müssen – wieder 800 Euro umsonst ausgegeben. Zum Glück vergesse ich das gleich wieder.

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Sebastian Lehmann
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Lea Kerpacs: Website-Redakteurin bei SWR3 (Foto: SWR3, Niko Neithardt)

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