- Leben mit einem schwerstbehinderten Kind
- Was ist MOPD1?
- Schicksalsschläge bestimmen Simones Leben
- Jonathan und die Diagnose
- Der Junge, der alle Erwartungen übertrifft
- Engagement für Kinder wie Jonathan
- Wie geht es für Jonathan und Simone weiter?
Hinweis: In diesem Text geht es unter anderem um die Themen Tod, Krankheit und Leben mit Behinderung. Falls du auf diese Themen sensibel reagierst, überspringe den Artikel lieber oder lies ihn nicht alleine. Dir geht es nicht gut? Hilfe findest du hier.
Simones Geschichte: Leben mit einem schwerstbehinderten Kind
„Es ist von Anfang an wie eine dunkle Wolke, die über einem schwebt, wo man nicht weiß, wann es anfängt zu regnen“, sagt Simone Braunsdorf-Kremer. Was sie meint, wenn sie diese Worte sagt, ist das Leben ihres Kindes – und die Frage, wann es endet. Denn ihr Sohn Jonathan (10) wurde mit der seltenen Gen-Defekt MOPD1 geboren.

Dieser Gen-Defekt ist massiv lebensverkürzend. Das bedeutet, Kinder, die mit dieser Erkrankung auf die Welt kommen, haben eine sehr geringe Lebenserwartung – in der Regel werden sie nicht älter als ein Jahr. Der kleine Jonathan hat diese Statistik um ein Vielfaches überlebt. Er ist aktuell zehn Jahre alt und lebt mit seinen Eltern im Westerwald. Seine Mutter Simone hat im SWR3 Podcast „Der Gangster, der Junkie und die Herrin“ Einblicke in ihr Leben und den Alltag mit Jonathan gegeben. Ihre Geschichte haben wir euch in diesem Artikel zusammengefasst.
Das ganze Gespräch hört ihr hier! ⤵️

Der Gangster, der Junkie und die Herrin Simone: Leben mit einem schwerstbehinderten Kind
- Dauer
Zu Gast ist Simone Braunsdorf-Kremer, 47 Jahre alt, aus dem Westerwald. Eine inspirierende Frau, die Klartext spricht und gelernt hat, Schicksalsschläge in etwas Positives zu verwandeln. Denn ihre Mutter starb früh, ebenso wie der Vater ihres ersten Kindes.
Zusammen mit einem neuen Partner hat Simone mit Mitte 30 die Idee, ein zweites Kind zu bekommen. Nach einer Fehlgeburt klappt es. Allerdings kommt Sohn Jonathan mit einem seltenen Gendefekt auf die Welt, trotz gründlicher Vorsorgeuntersuchungen. Er hat MOPD1, eine extreme Form von Kleinwuchs und wiegt bei der Geburt nur 490 Gramm. Seine Lebenserwartung liegt bei nur 9 Monaten. Für Kinder mit MOPD1 kann jeder Schnupfen tödlich sein. Doch Jonathan ist heute fast 10 Jahre alt und damit eines der ältesten Kinder mit diesem Gendefekt.
Wie Simone und ihr Mann damit umgegangen sind, wie sie anderen Eltern Mut machen und warum es völlig legitim ist, sich gegen ein Leben mit einem behinderten Kind zu entscheiden, darüber spricht sie mit Nina, Roman und Maximilian. Es geht um die enorme persönliche Belastung durch die Pflege und um das Thema Tod. Aber es geht auch um Jonis Humor, seinen fiesen Musikgeschmack und die wunderbare menschliche Hilfe durch ebenfalls Betroffene.
Für Simone bleibt es trotz ihres Lebens an der Belastungsgrenze definitiv eine gute Idee, ein zweites Kind zu bekommen zu haben. Durch Jonathan hat sie den Sinn in ihrem Leben gefunden, weil sie mit ihrem Verein anderen helfen kann. Und mehr als vielen anderen ist ihr bewusst, wie wichtig es ist, im Hier und Jetzt zu leben.
Schreibt uns unter gjh@swr3.de.
Link zum Mitschnitt dieser ungekürzten Folge bei Twitch:
https://www.twitch.tv/videos/2399630505
Instagram: Jonathan – ein Leben mit MOPD1:
https://www.instagram.com/jonathan_ein_leben_mit_mopd1/?hl=de
MOPD1 – Ein Kinderleben mit Einschränkungen:
https://www.compass-pflegeberatung.de/aktuelles-medien/einblicke/mopd1-ein-kinderleben-mit-einschraenkungen
Therapeutensuche: https://www.therapie.de/psyche/info/ und https://www.bptk.de/service/therapeutensuche/
Podcasttipp:
https://1.ard.de/hoellenrausch
Schicksalsschläge bestimmen Simones Leben
Simones Biografie liest sich wie ein Shakespear-Drama: Mit 14 stirbt ihre Mutter an Brustkrebs. Als sie später als erwachsene Frau selbst eine Familie gründet, stirbt der Vater ihres ersten Sohnes völlig überraschend an einem Schlaganfall – ihr Sohn war damals gerade einmal fünf Jahre alt.
Mehrmals stand Simone mit dem Rücken zur Wand, musste Verluste verarbeiten und den Blick wieder nach vorne richten. „Jeder hat sein Päckchen zu tragen“, heißt ein Spruch. Aber wenn man Lebensgeschichten wie die von Simone hört, fragt man sich zwangsläufig, warum die Päckchen einiger Menschen scheinbar so viel schwerer wiegen als die anderer.
Als Simone einige Jahre später einen neuen Partner kennenlernt und schließlich heiratet, ist der Wunsch nach einem zweiten Kind groß. Und tatsächlich: Sie wird schwanger – mit Zwillingen! Der erste Schock für Simone, denn gleich zwei Kinder konnte sie sich anfangs nicht vorstellen. Und der nächste Schock soll schon kurze Zeit später folgen: Simone erleidet eine Fehlgeburt.
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Jonathans Diagnose: MOPD1
Der Kinderwunsch soll sich für Simone und ihren Mann allerdings doch noch erfüllen. 2014 kommt ihr zweiter Sohn, Jonathan, auf die Welt – allerdings viel zu früh:
Und er ist auf die Welt gekommen – Ende des siebten Monats mit einem Geburtsgewicht von 490 Gramm und 29 Zentimetern. Und sein Kopfumfang waren 20 Zentimeter.
Die Ärzte gehen nach der Geburt davon aus, dass er einfach unterversorgt ist – im Brutkasten soll der Kleine aufgepäppelt werden. Doch Simone ist skeptisch. Sie findet, ihr Sohn sieht ganz anders aus als die übrigen Babys. Sie hat das Gefühl: Irgendetwas stimmt da nicht.
Der erste Verdacht der Mediziner: Kleinwüchsigkeit. Doch nach einigen Monaten ändern sie die Diagnose: Ein Ultraschall des Gehirns alarmiert sie.
Die Prognosen waren extrem schlecht. Er wird nie alleine essen können, er wird immer über eine Sonde ernährt werden müssen. Er wird nie alleine sitzen, er wird nie krabbeln, er wird nie laufen.
Die Diagnose: Der seltene Gen-Defekt MOPD1. Eigentlich hatte Simone in ihrer Schwangerschaft alle möglichen Untersuchungen machen lassen, um eine mögliche Behinderung des Kindes frühzeitig zu erkennen.
Ich ecke zwar manchmal an mit dieser Aussage, aber es ist einfach die Wahrheit, ich konnte mir für mich nicht vorstellen, ein Kind mit Behinderung zu bekommen. Und ich wollte diese Tests machen lassen, um eventuell meine Konsequenzen daraus ziehen zu können.
Trotz der Tests: Jonathan kommt schwerstbehindert auf die Welt. Für Simone ist das mehr, als sie ertragen kann.
Und dann hat sich der Boden unter mir aufgetan. Also so, wie man das immer so sagt. Ich dachte, ich falle, falle, falle und komme niemals an.
Simone muss eine Entscheidung treffen
Um Simone wird es dunkel. Sie ist überfordert mit der Diagnose und ist verzweifelt.
Ich wollte das einfach nicht wahrhaben, ich wollte dieses Leben nicht haben. Ich wollte einfach, dass das alles nicht passiert.
Für einen Moment überlegt Simone, Jonathan zur Adoption freizugeben, denn die Ärzte prophezeien ihrem Sohn einen frühen Tod.
Ich hab mir gedacht, wenn ich ihn besser kennenlerne, wird's ja immer schwerer. Und ich muss ihn dann beerdigen. Und das will ich einfach nicht.
Der Junge, der alle Erwartungen übertrifft
Doch Simone entscheidet sich für Jonathan – für ein Kind, das allen Prophezeiungen, allen Statistiken zum Trotz lebt – und zwar schon seit zehn Jahren. Und auch was seine Fähigkeiten angeht, hat er die Erwartungen der Ärzte übertroffen: Jonathan kann krabbeln, er kann alleine sitzen, er isst und trinkt – so wie andere Kinder. Und: er kann lachen.
Er hat einen echt schrägen Humor, also der ist super schadenfroh, Also wenn ich mich irgendwie stoße oder mir was runterfällt, dann liegt er am Rücken und lacht sich schlapp.



Ihr gemeinsames Leben ist anstrengend, klar. Simone kann ihrem Beruf nicht mehr nachgehen, worunter sie selbstverständlich leidet. Aber gleichzeitig ist es ihr wichtig zu vermitteln, dass es in ihrem Leben auch viel Freude, Glücksmomente und Positivität gibt.
Das ist jetzt einfach so. Das Leben ist nicht nur Kacke, nur traurig. Sondern wir haben auch Spaß und der Jonathan hat auch Spaß und der Jonathan hat auch seine Vorlieben, [...] er hat auch seinen eigenen Kopf und das ist ja auch gut so.
Davon kann man sich übrigens auch selbst überzeugen. Auf ihrem Instagram-Kanal jonathan_ein_leben_mit_mopd1 dokumentieren Simone und ihr Mann ihr gemeinsames Leben mit Jonathan.
Engagement für Kinder wie Jonathan
Die britische Organisation Walking with Giants Foundation verbindet Familien, deren Kinder vom selben oder ähnlichen Gen-Defekten wie Jonathan betroffen sind. Eine Idee, die Simone und ihrem Mann enorm weitergeholfen hat.
Wir haben untereinander sehr viel Support und das ist wundervoll. Es ist einfach wirklich richtig wundervoll.
Mit einigen Freunden haben die beiden daher 2018 den Verein Walking with Giants Germany gegründet: Eine Plattform, die Austausch ermöglicht, Veranstaltungen organisiert und finanziell unterstützt, denn:
Es ist tatsächlich so, dass nicht alles von den Krankenkassen übernommen wird, was man braucht. Das ist ein ganz großes Problem hier bei uns in Deutschland.
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Simone: „Wir leben jeden Tag, als wäre es der letzte.“
Im Gespräch erzählt Simone von den Erfolgen genauso wie von den schwierigen Zeiten ihres Lebens mit Jonathan.
Wenn ich normalerweise ein Kind bekomme, dann weiß ich, in einem Jahr schläft es durch. In drei Jahren schläft es bei Oma und Opa, dann habe ich wieder Freiraum als Paar. Das sind Perspektiven, die haben wir nicht. Das macht psychisch was mit einem.
Hinzu kommt Jonathans sehr schwaches Immunsystem. Vor allem in den Wintermonaten ist das für die Familie aufgrund der Infektionsgefahr sehr belastend. Aber auch das meistert die Familie gemeinsam.
Man lernt definitiv das Leben einfach mehr wertzuschätzen, nichts mehr auf die lange Bank zu schieben. [...] Wir warten nicht, weil wir nicht wissen, wie viel Zeit wir mit Jonathan noch haben, ob wir diese Dinge noch erleben können. [...] Wir leben jeden Tag, als wäre es der letzte.
Jeden Tag leben, als wäre es der letzte – etwas, das wir uns alle zu Herzen nehmen können! ❤️ Das ausführliche Gespräch hört ihr im SWR3 Podcast „Der Gangster, der Junkie und die Herrin“ – in der ARD Audiothek und überall, wo es Podcasts gibt.